Kürzergeschichten


Die Trauer eines ganzen Lebens passt in drei kurze Sätze, davon bin ich überzeugt. Ich weiß nur nicht, welche drei Sätze das sind. Deshalb muss ich sie finden.



Umso mehr ich schreibe, desto mehr fasziniert mich die Macht nicht der großen Prosa, sondern des einzelnen, des einen richtigen Wortes.

Es ist wie im Film: der Schnitt ist entscheidend. Zu früh und du verpasst das Wesentliche. Zu spät und du machst das Wesentliche unwesentlich. Wie in einem Cartoon geht es um Verdichtung. Eine ganze Welt in zwei, drei Bildern. Wie beim Sex: Aussparen, Hinnehmen, Sein-lassen und Vergessen.
Wie beim Lieben: Besser nicht zu viel wissen.



Du findest ein Buch auf einer einsamen Insel – den ganzen verdammten Wälzer. Es ist ein altes Buch und kein sonderlich gutes. Du hast sonst nicht viel zu tun, außer eben zu überleben, deswegen liest du es. Es gefällt dir kaum. Es ist lang und langatmig. Du liest es noch einmal, nur um sicher zu gehen. Nein, es ist wirklich nicht gut. Das Ganze deprimiert dich so sehr, dass du dich noch am selben Abend an der Palme, von der du die letzte Kokosnuss geholt hast und unter der du schläfst und an die du in mancher Nacht auch pisst, wenn du zu ängstlich bist, um weiter ins Schwarz des Inselinneren vorzudringen; dass du dich noch am selben Abend an dieser verdammten Palme erhängst. Dass am nächsten Tag ein Kreuzfahrtdampfer, der deine Rettung gewesen wäre, mit tonnenweise alten deutschen Touristen an der Insel anlegt, bekommst du nicht mehr mit. Schade.

Und jetzt stell dir folgendes vor: was, wenn du nicht das ganze verdammte Buch gefunden hättest? Was, wenn es die Witterung und die Zeit und die Tropenstürme, die es hier zu bestimmten Jahreszeiten gibt, etwas gnädiger mit dir gemeint und das verdammte Buch zerfetzt hätten? Was, wenn du in diesem gruseligen, ranzigen Bunker, in dem irgendein armes Schwein – vielleicht ein japanischer Soldat oder so – schon lange vor dir hier verreckt war, nicht ein Buch, sondern nur eine einzelne schimmelige Seite gefunden hättest? Eine einzige abgerissene Seite: kein Anfang – kein Mittelteil – kein Schluss – nur eine Handvoll Sätze. Nur du und deine Fantasie, den Rest auszukleiden. Nicht mehr.

Wärst du noch am Leben? Würdest du jetzt mit ein paar ältlichen Ehepaaren, die Namen wie Heinz und Elke und Horst-Dieter tragen, Shuffleboard spielen und vom All you can Eat-Buffet fressen, bis die Diabetes-Medikamente dir aus den Adern wieder rausschießen und Caipirinhas saufen, bis du über die verdammte Reling kotzt? Beantworte dir diese Frage selbst – tu mir diesen einen Gefallen, bitte – beantworte sie dir selbst.