Gestern war ich im Park. Bei Regen. Aber wen kümmert der schon? – Wissen Sie, was Heiner sagt? Auf’s Wetter zu schauen, auf Kinder oder Frauen, das ist für Luschen oder Sauen – Bumm. Alte, chinesische Weisheit. Solche Dinge sagt Heiner. Solche Dinge weiß Heiner.
Heiner, falls Sie sich das fragen, das ist mein Berater. So nennt man das jetzt.
Heiner heißt eigentlich Normann und im Grunde weiß ich sonst herzlich wenig über ihn, außer, dass er eben eigentlich Normann heißt, sich aber lieber Heiner nennt, weil Normann auch der Name seines Vaters war; und dass er gerne alte chinesische Weisheiten zitiert und er gerne alle möglichen Statistiken liest (möglichst mit Balken, Ulrich. Mit Balken! Mit Fetten, fleischigen Balken, Ulrich! Umso balkiger, desto besser! Kuchengrafiken gehen sonst auch). Außerdem schreibt er manchmal Gedichte. Die handeln dann von Liebe, sagt er – ich habe noch keines von ihnen gelesen, deswegen kann ich nicht allzu viel dazu sagen, aber egal. Sie werden schon in Ordnung sein, wenn Heiner sie schreibt. Heiner ist auch in Ordnung. Heiner kann sowas, glaube ich.
Sonst weiß ich nichts über Heiner. Das macht aber nichts, denn Heiner weiß dafür alles über mich und das ist schließlich viel wichtiger. Das sagt zumindest Heiner. Und ich traue Heiner – werde ihm wohl trauen müssen. schließlich ist er mein Berater – und wofür wäre so ein Berater denn sonst gut, wenn nicht dafür, dass man ihm traut, nicht wahr?
Eben.
Heiner hat auch wirklich meistens recht. Das muss man sagen. Das muss man Heiner lassen. So wie mit dem alten chinesischen Sprichwort über den Regen. Oder wie mit den ganzen Statistiken über den Regen und dessen Auswirkung auf Hundebisse – wirklich interessant – aber das ist wieder eine andere Geschichte. Ich sage das auch nur, damit Sie wissen, warum ich gestern im Park war – bei Regen: Wegen den Statistiken – falls das wichtig ist – wegen den Statistiken und wegen den Bäumen – aber das ist auch wieder eine andere Geschichte … Heiner sagt, ich muss mich mehr auf das Wesentliche konzentrieren. Fokus nennt er das. Er wird schon auch damit recht haben, der Heiner. Deswegen arbeite ich ja an mir, so wie er sagt.
Ich bin also gestern im Park. Ich bin da, bis der Regen aufhört. Solang ist es rötlich und schön da – irgendwie dampfig. Es riecht nach feuchter Wäsche und nach Harz und die Bäume sind endlich mal still – wenigstens für den Moment. Fast könnte man meinen, dass es dort friedlich wäre. Danach möchte ich wieder nachhause, um eine zu rauchen. Nach dem Rauchen möchte ich kochen und dann noch etwas für meine Menschwerdung tun, wie Heiner das nennt – lachen Sie nicht. Aber noch ist es nicht soweit – auch wenn ich mit den Gedanken schon ganz dabei bin, bei der Menschwerdung, wie Heiner das nennt. Aber vorher, im Park, da habe ich noch Günther zu treffen – ganz zufällig, am Heimweg, muss das sein. Er spaziert da lang und ich eben auch. So trifft man sich zufällig.
Günther kenne ich von früher, von unserer Zeit bei der Bank.
Heute trägt ein paar leere braune Papier-Einkaufstüten am Arm herum, so wie sie es in der Werbung (nur eben mit vollen Tüten) tun. Die Tüten sind vom Regen aufgeweicht und oben ganz dunkelbraun und unten ganz hellbraun und gewellt (so ein Trottel, geht der mit Papiertüten durch den Regen). Das hätte er früher, bei der Bank, nicht getan. Anderes – ja. Alles. Jederzeit. Weil wir so waren. Bumm. Das aber nicht. Günther raucht eine und stinkt. Er stinkt sogar gewaltig. Wegen den Bäumen, die jetzt wieder schreien, kann ich aber unmöglich erkennen, wonach er stinkt, also lass ich es gleich bleiben. Stattdessen frage ich ihn, wie es ihm denn so geht. Das macht man eben so, wenn man sich trifft.
„Wie geht es dir denn so?“, sage ich.
Günther glotzt mich an. Er gibt mir keine Antwort – Na, warum eigentlich auch? Ich glotze ihn ja schließlich auch nur belämmert an und mache Geräusche, die im Grunde nichts bedeuten. Ich nehme also an, das passt schon so.
Fair enough, würde Heiner sagen – Heiner kann Englisch, weil viele seiner Statistiken aus England kommen, schätz ich mal. Insofern weiß ich wohl auch das über Heiner.
Aber: Fokus.
Günther sagt noch immer nichts. Ich auch nicht. Stattdessen gehen wir weiter aufeinander zu und glotzen. Sehr peinlich. Die welligen Tüten rascheln auf Günthers Arm. Lauter noch als die Bäume. Es ist schrecklich. Es stinkt. Mehr und mehr, je näher wir uns kommen. Und dann, wir sind fast auf gleicher Höhe, da kommt das Bumm. Noch weiß ichs nicht. Glotze nach Günther und nach Bäumen irgendwo.
Da bepisst der sich.
Bumm.
Einfach so, während wir auf gleicher Höhe sind – und ich glaube, nicht zum ersten Mal an diesem Tag! Das möchte ich betonen.
Während Günther sich bepisst, glotzt er mich weiter an, stellen Sie sich das vor! Ganz selbstverständlich: Glotzt der Mensch mich an, während er sich einschifft und wir auf gleicher Höhe sind. Einfach so: ein kreisrunder dunkler Fleck im Schoß seiner Hose, der wächst und sich ausbreitet, wie von einer Schusswunde; wie Krebs; einfach so, und dabei glotzt der Mensch mich an, während wir auf gleicher Höhe sind.
Und das ist noch nicht mal alles: Er bleibt auch nicht stehen dabei! Bepisst sich der und geht dabei einfach weiter. Raucht und und glotzt, mit seinen leeren, nassen Tüten und seinem schmalen, spitzen Arm und seinem roten, grünen Streifenpulli, den sie oben in der Anstalt jetzt alle tragen … stellen Sie sich das mal vor!
Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hinglotzen soll, während wir auf gleicher Höhe sind und aneinander vorbeigehen: nach den großen, feuchten Augen, nach dem großen, feuchten Fleck – mit einem Kiefer und zwei weißlichen, kaum zu sehenden Lippen, in denen seine Kippe hängt und ganz platt zusammengedrückt wird, dort wo der Filter in dem dünnem Mann verschwindet, mahlt er wie ein Greis, der sein Gebiss verloren hat. Mahlt er auf der Kippe rum. Mahlt auf seinem eigenen Kiefer. Mahlt und mahlt – auch das, neben dem Gepisse, ein Anblick, den man nicht so leicht vergisst. Vom Glotzen ganz zu Schweigen. Dieses Glotzen … Heiner und Männer wie Heiner – Dichter – würden es wohl „wässrig“ nennen, dieses Glotzen. Ja: ein wässriges Glotzen ist das, ja.
Mensch, dieser Günther … Dass der früher mal mit uns Golf gespielt hat. Mit uns gegessen hat. Den Flieger geteilt.
Das Boot.
Und jetzt?
Bepisst sich der einfach – und ich glaube, nicht zum ersten Mal an diesem Tag!
Das möchte ich betonen.
Bleibt nicht mal stehen dabei …
Mensch. Schon komisch, denke ich, was aus Leuten wird, die man so kennt.
Ich denke an früher.
An mich von früher und Günther von früher. Als wir uns um die großen Fische gekümmert haben, wie man so sagt. So haben wir das damals genannt. Große Fische ficken – Dorsch ficken. Barsch ficken. Lachs ficken. Schwerthai ficken – heißen die Dinger überhaupt so? Codiert, sortiert, alles schön nach Amt und Parteibuch und Würden und sofort, Sie wissen schon.
Das denke ich mir so, während wir aneinander vorbei gehen, der Günther und ich, er zum Greifen nah, ich ganz weit entfernt, und dann rücklings voneinander fortgehen, wieder …
Ich schaue nicht zurück. Ich rümpfe nicht die Nase, weiß gar nicht, warum. Es stinkt noch immer höllisch. Ich bemühe mich, nicht nach den Bäumen zu hören –
die Bäume
Heutzutage werde ich gefickt.
So ist das nun mal.
Ich versuche mich zu konzentrieren.
Denken – das wäre jetzt gut. Das würde Heiner jetzt sagen:
Denken!
Nicht denken!
Keine Ahnung. Ich kenne den Unterschied nicht.
Rauchen – das wäre jetzt gut, das denke ich so vor mich hin.
Und Einkaufen. Ja. Günthers leere, nasse, wellige Tüten haben mir richtig Laune gemacht, mal wieder richtig schön einzukaufen. Vielleicht mit Ingrid. Achso – nein, Ingrid ist ja tot. Alle sind heutzutage tot. Daran gewöhne ich mich nie.
Mal sehen.
Einkaufen gehen – dann eben allein. Aber trotzdem richtig schön.
Rauchen – endlich wieder rauchen.
Das denke ich; sonst nicht viel – komisch genug, ich weiß. Und das bei meiner Intelligenz – ich weiß, was Sie denken …
Naja.
Heiner wird das schon richten. Er rät mir jetzt, meinen Urin zu trinken.
Darüber wird es Herbst.
Der Park ist schon ganz golden, kommt mir vor. Pissegeruch, Rauchen und Herbst, für immer eins, in diesem Gold, in meinem Kopf, an diesem Tag. Einkaufen gehen. Auch das: schön.
Ich gehe nach Hause und genieße die letzten Sonnenstrahlen des Tages, die Bäume; ich koche und arbeite an meiner Menschwerdung, wie Heiner das nennt.
Auch das: schön.
Herbst.
Eine Woche später ist Günther tot. Das habe ich zumindest gelesen; in der Zeitung; unter Gemischtes.
Schon komisch.
Ob das was mit der Pisserei zu tun hat?
Wer weiß.
Naja, wenn der noch nicht mal stehen bleibt dabei, ganz bestimmt. Also mein Geld wette ich da drauf, da können Sie wetten. Allein schon wegen dem Geglotze. Dem wässrigen Geglotze. Das hat man dem doch irgendwie angesehen, glauben Sie’s oder nicht. Und dann noch die Sache mit dem Rauchen. Also wirklich …
Dazu gibt es auch eine Statistik – aber das ist jetzt wieder eine andere Geschichte.
Fokus – Sie verstehen.

Die Bäume!
Ich bin also gestern im Park. Ich bin da, bis der Regen aufhört. Solang ist es rötlich und schön da – irgendwie dampfig. Es riecht nach feuchter Wäsche und nach Harz und die Bäume sind endlich mal still – wenigstens für den Moment. Fast könnte man meinen, dass es dort friedlich wäre …
6–10 Minuten
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