Ich glaube, vor drei oder vier Jahren war das, da hat mir meine Freundin Agnes diese Dinger geschenkt – da waren Agnes und ich noch mehr als Freunde, irgendwie, aber das ist eine andere Geschichte; nun, wenn Sie’s genau wissen wollen, haben Agnes und ich da jede Menge gefickt, in dieser Zeit, obwohl wir uns doch eigentlich geschworen hatten, wirklich nur Freund zu bleiben, dieses Mal – dieses eine gottverdammte Mal …
“Nur Freunde”, sagte sie und fünf Minuten später spielte sie die alte Flötenmelodie aus diesem einen Western, wie hieß der noch? Ich kann mir keine Namen merken. Sie spielte sie jedenfalls schlecht und mir fiel wieder ein, warum das mit uns nichts getaugt hatte – nicht jetzt unmittelbar wegen ihrem Flötenspiel, so schlecht das auch war, wissen Sie, eher wegen unserer, wie nennt man das? – Chemie.
Wir hatten damals viel getrunken. Meistens vor dem Ficken. Und meistens auch danach, aber – ja Himmelherrgott, warum erzähle ich denn jetzt eigentlich von Agnes? Sie hatte mir jedenfalls so scheiß Dinger geschenkt – Tickets, die sie mit ihrem neuen Stecher, einem Kerl namens Raimund – ich meine, wer heißt denn schon Raimund – nicht lösen konnte, weil Raimund plötzlich darauf gekommen war, dass er verheiratet war und seine Tochter wohl eine Schulaufführung an diesem Wochenende hatte oder so etwas in der Art … Ja, so kann’s eben gehen, im Leben: eben hast du noch einen Stecher, der Raimund heißt, und Tickets für irgendein Konzert und eine Reservierung in irgendeinem Waldhotel mit Seeblick und Wasserfällen und allem drum und dran und im nächsten hast du ein Stiefkind und eine Stiefehefrau, von der du nichts weißt und die nichts von dir weißt und keinen Urlaub und überhaupts nichts mehr – dafür viel Kummer und Flötenspiel mit dem Ex, ja so kann das gehen.
Nein, das letzte war jetzt ein Scherz – Agnes und ich, wie spielen keine Flöte mehr. Jetzt aber endgültig. “Kein Flötenspielen mehr”, sagte ich und meinte es auch so. Eine Flasche kullerte unters Bett und sie fluchte. Sie hatte immer so ein Gewese mit ihrem echten Parkettboden. “Das ist ein echter Parkettboden, du Penner”, sagte sie immer, “Weißt du eigentlich was das heißt, ein echter Parkettboden?“
“Jaja.” Agnes konnte ein richtiges Scheusal sein. Aber ich auch. Also schätze ich, dass das okay war.
Jedenfalls drückte mir Agnes diese verdammten Konzerttickets und die Hotelreservierung in die Hand, ein feuchtes weißliches Bündel mit blauen Streifen an den Seiten und sagte: “Da, fahr du hin, mir ist die Laune mit diesem Arschloch vergangen” – sie meinte Raimund und erzählte dann auch prompt von ihrem Raimund, so wie sie es immer tat. Raimund hatte nämlich einen riesigen Pimmel und brachte es in der Kiste auf Hundertachtzig, aber darum ging es jetzt nicht – “Kannst du die Dinger brauchen, vielleicht? Ach, weißt du was, es ist mir egal – wenn nicht, wirf sie in den verdammten Fluss oder schenk sie weiter, stornieren kann man die Scheiße ohnehin nicht. Ist noch Fusel da?”
Ich sah in den Umschlag. Sie langte nach der Flasche auf ihrem echten Parkett. Ich sagte etwas, fummelte an der Papierlasche herum, bis ich es endlich auf bekam, fand Tickets zu irgendeiner Art Konzert auf einer Waldbühne oder so, mitsamt Übernachtungen in irgendeinem nahen Hotel, was weiß ich …
Agnes plapperte und trank.
Ich steckte die Dinger wieder weg und warf den Umschlag auf den Nachttisch, während ich mich wieder auf sie rollte. Ich versuchte, es ihr zu besorgen, musste dabei aber weiter an die Lasche denken, die ich nicht aufbekommen hatte und an das Papier, das jetzt weiß und mit dynamischen blauen Streifen und schräg und überhängend am Nachttisch lag, wo auch ein paar uralte, vielleicht schon löchrige Kondome lagen …
Ich schätze mal, das dachte ich so, während ich auf ihr drauf war, der Stecher Raimund hatte für den Bumms gelöhnt, dass Agnes so locker mit ihrer Habe um sich warf; normalerweise warf Agnes mit gar nichts locker um sich, außer höchstens mit Gift und ihren meterlangen Titten, die, Hilf Gott, eines Tages noch mal am Boden schleifen würden, wenn die Frau nicht endlich anfangen würde, BH zu tragen, das sagte ich ihr nun schon seit Jahren; seit all den Jahren, die wir uns kannten – aber warum erzähle ich hier dauernd von Agnes und diesem ganzen Schweinekram? Ich wollte doch von den Tickets erzählen und meiner Fahrt … Na, vielleicht, weil Agnes das in mir provoziert – labern, Ausschweifungen, Schweinkram – oder vielleicht weil die Welt ein verdammter ausufernder Schweinestall geworden ist, wer weiß das schon.
Als wir uns verabschiedeten, steckte ich jedenfalls den weißen fleischigen Umschlag, feucht und an den Seiten blau, wie er nunmal war, in die Arschtasche meiner Jeans und schmatzte meiner Agnes einen Kuss auf die Wange. Wir lachten noch ein bisschen, ich nahm sie ein spielerisch in den Arm. Ich tröstete sie wegen ihrem Raimund-Arschloch – wer heißt schon Raimund – und ich glaube, es ging ihr anschließend ein bisschen besser. Ich fühlte mich leergespritzt und irgendwie hohl, aber auch ganz gut, schätze ich.
“Bist ein armes Mäuschen, mein kleiner Speck” – so nennen wir uns in den guten Tagen – kleiner Speck und großer Speck – “Wusste gleich, dass mit dem Arschloch was faul ist. Ich meine, wer heißt schon Raimund? Ich bitte dich. Kränk dich nicht. Kränk dich nicht.” Ich küsste sie noch einmal hinters Ohr.
“Der ist schon in Ordnung”, sagte sie. Das machte sie immer und ich werde nie kapieren, warum – Arschlöcher zu verteidigen, die ihr übel mitgespielt hatten. Hol mich der Teufel; manchmal bilde ich mir ein, ich war der einzige verdammte Idiot, dem sie ihre berühmte Mildtätigkeit verwehrte – und das mir, ausgerechnet mir, wo ich doch der einzige Idiot bin, der ihr noch nie übel mitgespielt hat … Naja.
“Einen Scheiß ist der”, sagte ich und drückte sie ein wenig. Ich testete das Fleisch, das mag schon sein; hat sie zugenommen, ist sie um die Hüften herum ein wenig fester geworden, seit wir das letzte mal die alte Flötenmelodie rausgedödelt haben? Möglich.
“Ach, halt die Klappe.” Sie verschränkte die Arme und ich kenne das Spiel – der Ofen ist aus. Also seufzte ich mein theatralisches Seufzen und sie schlug theatralisch die Augen nieder. Wir waren alte Hasen im Streitgeschäft; wir wussten, wann es Zeit war, die Bühne zu räumen, das Lager abzublasen, die Glut in den Staub zu treten – na, Sie wissen schon.
Sie küsste mich auf die Wange, ich sage ihr, dass sie es nicht so schwer nehmen soll und erklärte ihr nochmal, wie oft mein verdammter Kiwibaum zu gießen ist – mein verdammter Kiwibaum ist eine Diva vor dem Herren und ihr Gedächtnis, was ihn betrifft, so unzulänglich, wie die des Herren, der uns seit zweitausend Jahren vergessen hat. Zwei Tage später sitze ich im Wagen und verlasse die Stadt Richtung Norden.
Ich folge dem Fluss, der dort einen steilen Keil in die Landschaft fräst, Papierfabriken und Tunneln und Schottergruben und Steinbrüchen eine dreckige Lebensader bietet. Es ist ein Scheißloch, dieser Kessel nördlich der Stadt, und ich lasse ihn so schnell ich kann, hinter mir, während ich rauche und im Radio nach etwas suche, das etwas weniger Scheiße ist.
Hinter dem Kessel wird es endlich grün; da ist ein Himmel, da ist ein Tag und ein Spätsommer, der zwischen all dem hängt. Was braucht ein Mann schon mehr? Ich fahre hoch in die Berge; folge einfach der Straße, die sich wie ein Schraubenzieher dort hoch in die Flanken der Felswände gräbt, höher und höher; die Bäume werden dürrer und ihre Äste nadeliger; alles schön und gut. Ich bin kein großer Naturbursch, aber eine Angel und ein paar Bootsruder kann ich gerade noch halten, als fühle ich sofort dieses alte Glück in mich steigen, das nur der Duft von Wasser und Baumharz einem gibt. Vielleicht hat das Ganze auch etwas mit dem Alter zu tun, denke ich mir, während ich den Wagen gegen die Serpentinen werfe. Ich bin kein junger Mann mehr – fühle mich nicht so, als wäre ich es je gewesen – aber seltsamerweise ist es immer nur das Verlassen der Stadt, vielleicht auch die Begegnung mit der Natur, die einen an solchen Kram erinnert: das Radfahren in den Bergen habe ich längst gegen das Wandern getauscht, am liebsten hocke ich an Bartresen oder an Restauranttischen – Dinge, die mittelalte Männer tun. Das Hotel, das breit und irgendwie wichtig zwischen einem Nadelwald, einem Schotterparkplatz und einer Felswand mitsamt Wasserfall liegt, hat das alles zu bieten. Es ist ein Hotel für mittelalte. Ein Hotel für mich. Sogar der Wasserfall, der hinter ihm über die Felswand gurgelt, sieht irgendwie mittelalt aus. Wie künstlich angelegt, denke ich mir, während ich meine Koffer aus dem Kofferraum hole. Schon lustig.
Ich sehe mir alles an. Das Hotel, mein Zimmer, die Läden, die Sauna, die Menschen. Auch das Konzert auf der Waldbühne sehe ich mir an; ich habe keine Ahnung, wer da spielt – irgendeine Trulle, die mich an einen Affen mit Titten in einem Cocktailkleid erinnert – ich bin zugegeben recht zugeballert, an diesem Abend, aber ich sehe mir alles an. Auch, wenn es hier verdammt heiß ist überall und schwül und mittelalt und voll, ich sehe mir alles an, schließlich habe ich Tickets. Tickets aus diesem fleischigen, weißen, dynamischen Umschlag mit den blauen Flügeln an den Seiten … Ein Abend auf Raimund, denke ich mir. Auf den dynamischen Raimund mit den dynamischen Flügeln. Ich bestelle mir noch ein Glas Sekt mit O-Saft und denke daran, ob Raimund wohl auch so ein Sekt mit O-Saft-Typ war. Raimund. Wer heißt denn so?
Es ist auch der Abend, an dem ich Agnes anrufe. Es geht ihr inzwischen schlechter. Raimund will sich nicht zu ihr bekennen. Sie hätte dies gesagt, erzählt sie, und er das … Ich halte mir den Hörer schwitzend und zunehmend betrunken ans rot glühende Ohr. Es bellt und plärrt hysterisch aus der Muschel, während ich mich halbnackt auf dem Hotelbett fläze. Ich überlege, warum es hier keine Klimaanlage gibt – und ob es wohl stattdessen Hostessen oder so etwas gibt, sozusagen als Entschädigung für die fehlende Klimaanlage. Die Minibar hat nicht den richtigen Stoff für mich; es juckt woanders.
Matt schiele ich aus dem Fenster, das aufgerissen hinter sich blähenden weißen Vorhängen daliegt, aber trotzdem keinerlei Luft in das schwül-blinde Zimmer lässt. Wovon blähen sich diese verdammten Vorhänge, denke ich matt, wenn nicht von Luft? Wovon? Ich schwimme auf dem Laken davon. Matt. Agnes plappert weiter – bla-bla-bla – wie ein Hühnchen schnattert sie aus der beigen Muschel des seltsam antiquierten Hotel-Telefons am Nachttisch. Über Raimund, über seine Frau, über seinen Sohn, darüber, was er gesagt hat und was nicht …
Ich überlege kurz, ob ich mir einen wichsen soll, lasse es dann aber bleiben, öffne stattdessen eine kleine Jack Daniels-Flasche aus der Minibar und höre weiter Agnes nicht zu. Ich sage oft Mhm und Oh und Nein, wirklich. Währenddessen betrachte ich nicht zum ersten Mal eine riesige, holzgeschnitzte Skulptur, die draußen auf dem riesigen Schotterparkplatz steht. Sie zeigt ein Schweine-Pärchen, das sich zweibeinig und allzu menschlich in den Armen liegt – glücklich, romantisch, süß; er in einem festlichen Anzug mit Fliege, sie in einem knappen, tülligen Kleid. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich das gräulich morsche Holz, aus dem es besteht, rosa vorzustellen.
Ich saufe und ich starre und mache mir so meine Ungedanken zu dem Schwein und zu Agnes und ihrem Raimund und der ganzen Scheiße, die sie sich wieder einmal eingebrockt hat, während die Vorhänge sich weiter ohne Luft bauschen. So viel mittelaltes Hotel und keine Klima, das ist es, was ich denke, während sich alles um mich bauscht. Matt. Ja – so richtig matt. Am Ende schlafe ich ein.
Am nächsten Tag gehe ich zelten – ich habe auf eigene Rechung noch zwei Tage drangehängt, weil hier alles so verdammt friedlich ist. Es gibt Essen, wo man nur hinsieht, sportliche Gäste, geile Weiber, gute Autos, gute Luft, den ganzen Murks. Nachts schlafe ich wie ein verdammtes Baby hier draußen, trotz der Hitze und der Unluft und der Vorhänge und all dem, es ist sagenhaft. Gottseidank ruft Agnes nicht mehr an. Das denke ich oft. Vielleicht ein wenig zu oft. Gottseidank …
Auch der letzte Tag vergeht friedlich. Ich fühle mich ein wenig einsam, wie so oft. Wieder einmal denke ich viel über Hostessen nach und was man mit ihnen anstellen könnte – wenn sie jung und noch unverbraucht wären, und wenn sie alt und schon ein wenig eingeritten zu mir kämen; auch darüber, was Agnes gerade macht, denke ich viel nach.
Beim Mittagessen bin ich einmal kurz davor, sie vom Münzfernsprecher, den ich hinter dem Kajak-Verleih gesehen habe, anzurufen. Ich will mir den Weg hoch ins Zimmer ersparen und hätte dann gleich eine gute Ausrede, um nur kurz mit ihr zu telefonieren – “Der Lärm, kleiner Speck, und die Münzen … Was? Ja! Ja, verdammt, hab’ ich gesagt, ich hör’ dich so schlecht! Ich wollte nur sehen, wie’s dir …” Naja.
Nachdem ich mein Steak hinunter geschlungen habe, drei Whiskey-Cola dazu und eine Riesenportion Folienkartoffeln, die mich irgendwie nur noch geiler machen, als ich ohnehin schon bin – ich verstehe auch nicht, warum – lasse ich es dann aber doch bleiben. Stattdessen schlendere ich wieder über die breite Terrasse vor dem Resort – vielleicht, weil ich nicht so recht weiß, wohin, mit mir; vielleicht, weil es zuweilen gut tut, seinen Weg aus den Augen zu verlieren. Ich bin in entfernter Menschen-Laune, wie ich es nenne; in der Stimmung, in der ich manchmal bin, wenn die Einsamkeit zu viel Teil von mir genommen hat, das kenne ich schon allzu gut. Dann brauche ich Menschen – schlimm genug. Dann muss ich in ihre Nähe tauchen, in ihre Stimmen, in ihre Ausdünstungen und den Lärm. Dann tun sie mir gut; nur ganz kurz; füllen irgendeine Art Batterie in mir, so stell’ ich es mir jedenfalls vor; bis es mir dann endlich wieder reicht …
Doch noch bin ich nicht so weit. Noch schlendere ich dahin.
Es gibt nicht viel für mich zu tun, außer den Mädchen und den Ehegattinnen und ihren Töchtern auf die Ärsche und auf die Beine unter den kurzen Tennisröckchen zu schauen – ein Spiel –, ohne dabei ihren alten Knackern von Ehemännern auf den Leim zu gehen. Es ist öde; viel zu leicht. Sie sind ohnehin mehr mit ihren Tagesplänen beschäftigt, mit ihren Handicaps und den verdammten rosa Ralph Lauren-Pullis, die sie sich um die Schultern geschlungen haben, um im Schatten der Nadelwälder ringsum nicht zu frieren – Himmelherrgott! Wenn nur eines dieser alten, kramfäderigen Weiber ein wenig Mumm in den Knochen hätte und es mal mit etwas anderem, als diesen Geldbörsen auf zwei Beinen aufnehmen würde – ich hätte schon was übrig für sie, dass ihnen schmeckt. Naja.
Bald merke ich: ich muss mich anderweitig ablenken. So geht das nicht weiter. Ich treibe und treibe und mir wird ganz filzig und schwammig im Kopf, vor lauter Ödheit. Und so verfalle ich auf die Idee, Agnes eine Postkarte oder einen Magneten als Mitbringsel zu besorgen. Ja – einen Magneten. Den könnte sie sich an den Kühlschrank packen und damit die Schul-Stundenpläne von Raimunds kleiner Kröte fixieren oder was weiß ich. Also lasse ich mich vom Terrassen-Strom, von den alten Weibern und ihren sehnigen, pulli-behangenen Silberrücken in einen der vielen Souvenirshop spülen.
Hinter der Tür, die fröhlich bimmelt, stelle ich mich auf einen entspannten Einkauf ein. Magnete – es gibt immer Magnete. Magnete sind das Verlegenheitsgeschenk unter den Mitbringsel, das hat Agnes einmal gesagt – gewissermaßen das Kochbuch unter den Urlaubsmitbringseln, Sie wissen schon. Jeder Souvenirladen führt Magnete. Jeder – nur dieser hier nicht, wie ich feststellen muss. Dieser hier führt Schweine. Ausschließlich. Schweine.
Holzschweine, Blechschweine, Metallschweine, Wachsschweine, Plastikschweine, Glasschweine, Tonschweine, Papierschweine, Stoffschweine, Filzschweine, Korkschweine, Gummischweine, Wurstschweine, Käseschweine – immer in der Betonung auf dem Plural, denn kein Schwein hier ist allein. Es ist offenbar ehenes Schweine-Gesetz, dass keines ihrer Exemplare jemals einsam und allein sein dürfe. Es herrschte strenge Partnerpflicht – Ehe und Zweisamkeit, wohin das Schweineauge auch sah; Schweinebürger hatten als Pärchen in unzweideutigen Posen aufzutreten: auf Hochzeiten; in ersten, zaghaften Küssen; nach der Geburt des ersten Schweinekindes; auf Schweineurlaub, auf Schweinetauchgang; auf Schweineabenteuer; zu zweit in gemütlichen Schweineleseabenden, Schweinkinomontag … Alles zu zweit oder mit Schweinebaby am Arm. Hier war die Welt noch in Ordnung.
“Wir sind seit dreißig Jahren verheiratet, wissen Sie!” ruft ein Mann. Er sitzt am Ende des engen rosafarbenen Tunnels, der dieses Schweinegeschäft bildet und sieht aus, wie ein ziemlich gutes Weihnachtsmann-Double – ja, er ist richtig gut; alles stimmt, nur, dass an ihm alles schweinerosa ist, was eigentlich rot sein müsste. Er unterhält sich mit einem dicken Amerikaner, dem, glaube ich, auch der Ruf gegolten hat. Der Amerikaner hat ganze vier Kameras um den Hals hängen: eine große, zwei kleine und eine aus Karton. “Wooow!” sagt der umständlich, als hätte er auch noch vier Kaugummis im Mund. Der rosa Weihnachtsmann-Kerl nickt ganz eifrig und spricht weiter Deutsch. Es scheint nicht weiter von Bedeutung. Sie rufen sich einander Lebensweisheiten zu, während ich mich auf meiner verzweifelten Suche nach verdammten Magneten durch das Dickicht an Schweine-Souvenirs quetsche. Auch dort hinten ist nirgendwo zu finden, was ich suche, und so wende ich mich wieder zum Gehen. Doch der rosa Weihnachtsmann ist schneller.
“Kann ich dem jungen Herren vielleicht helfen?” sagt er.
Der Amerikaner wendet sich solange irgendwelchen Schweinen zu. Ob er beleidigt ist, weil der Weihnachtsmann jetzt mit Onkel Kühlschrankmagnet sprechen muss, weiß ich nicht. Man sieht es ihm jedenfalls nicht an. Trotzdem fühle ich mich als Eindringling, ja als Querulant. Beinahe tut es mir leid. Währenddessen lächle ich dem rosa Weihnachtsmann zu. Ich lächle wie ein verdammtes Hutschpferd.
Ja, er hat mich an der Angel – ich mag ihn; schlimmer noch: ich will, dass auch er mich mag. Ja, vielleicht bin ich leicht zu beeinflussen. Junger Herr, hat er gesagt und vielleicht bin ich einfach genug gestrickt, um dadurch schon für ihn eingenommen zu sein … Wer weiß.
“Ja, äh, sie haben keine Magnete von der Gegend hier?” sage ich leutselig, “Nur Schweine?”
“Nur Schweine”, bestätigt der rosa Weihnachtsmann-Mann und nickt einen Knick in seinen Rauschebart – erst jetzt bemerke ich die kleine, rundliche Frau an seiner Seite. Es ist schwer, sie zu bemerken, stell ich fest, weil sie so wirkt, als gehörte sie irgendwie zu ihm dazu – wortwörtlich; körperlich; so als würde sie schräg aus seinem umfangreichen Bauch herauswachsen. Auch sie lächelt mich stolz an. Auch sie nickt. Beide nicken. “Nur Schweine”, sagt der Weihnachtsmann, “seit inzwischen, wie lang, Gertie? Dreißig Jahren. Wir waren die ersten, die hier in das Resort gekommen sind. Waren frisch verheiratet, damals, nicht wahr, Gertie? Wir sind seit dreißig Jahren verheiratet, wissen Sie!”
“Also keine Magnete?”
“Nein.”
“Aber schön für Sie” – mir fällt wieder ein, dass er mich ja mögen soll – “Dreißig Jahre … Wow.” Ich würde jetzt wirklich gerne gehen. Mit den Gedanken bin ich schon längst wieder bei meinem Zimmer; bei der Minibar, beim Fenster mit den belähten Vorhängen; vielleicht sogar bei dieser verdammten nach Whiskey und schalem Atem riechenden, beigen Telefonmuschel, in der Agnes wohnt.
“Ja. Ach. Das …” Der Mann lacht und errötet wie auf Knopfdruck. Verlegen wie ein kleiner Junge, greift er nach ein paar Holzschweinen auf dem Tresen, hinter dem er mit seiner Frau sitzt; rückt sie zurecht, schiebt sie dahin, schiebt sie dorthin. “Der Trick ist, sich nicht zu trennen, wissen Sie? Auch, wenn’s manchmal schwierig ist, nicht wahr, Gertie? Schwierig, bei Gott …”
“Ja. Soso …”
“Excuse me”, sagt ein braungebrannter Mensch, der selbst für ein Unterhosenmodel noch zu schön wäre, und schiebt sich und seine Barbie-artige Freundin sonnenbebrillt an mir vorbei. Er sieht aus wie der Typ, der mich heute schon einmal auf der Terrasse angerempelt hat; andererseits: Wer von denen hier sieht nicht so aus? Die fachmännische Ernsthaftigkeit, mit der er und seine Alte zwei Kama-Sutra-Schweinchen inspizieren, gibt mir den Rest. Der Amerikaner mit den vier Kameras um den Hals und den vier Kaugummis im Mund gesellt sich zu ihnen; er fällt regelrecht über sie her. Alles rempelt durcheinander. Alles torkelt in erster Linie gegen mich. Schweine-Aufsteller wanken; Schweine-Drehständer klirren alarmierend. Ich fluche leise in mich hinein; will aber nichts gesagt haben. Ich will schließlich keinen Ärger. Ich hebe die Hände, flach nach außen, brav, so wie es sich gehört. Ein zweites Pärchen von links schiebt mich wieder in die Mitte. Langsam fühle ich mich wie eine verdammte Flipperkugel – eine Schweine-Flipperkugel ohne Frage. Plötzlich denke ich irgendetwas – ich weiß nicht mehr, was. In dem Gerangel geht es mir verloren.
“Einfach zusammen bleiben, wissen Sie?” sagt der Weihnachtsmann-Alte darüber, “Heute trennen sich die Leute wegen jedem” – er erzählt mir seine üblichen Floskeln, die man schon tausendmal so oder so ähnlich irgendwo gehört hat, und ich schaffe es irgendwie, ihm nicht zuzuhören. Zwei weitere Pärchen schieben sich durch den halben Meter schweinefreien Gang, in dem ich weiter und immer weiter hin und her geschoben werde, wie ein Puck beim Eishockey. Irgendjemand flucht leise – über mich, ich weiß es ganz genau. Nur, warum ich nicht gehe, weiß ich nicht genau.
Nun, es wäre wohl unhöflich – ja, denke ich mir, das wird es wohl sein. Unhöflich. Vielleicht ist es auch nur, weil der Alte mich “jung” genannt hat – so billig ist der Mensch, denke ich mir, so billig ist der Mensch nunmal. Vielleicht ist es das, was ich mir vorhin schon gedacht hatte … der Gedanke, der mir hinuntergefallen war; ich glaube es aber nicht.
Der Weihnachtsmann-Mann hat die ganze Zeit über gesprochen, fällt mir jetzt auf. Mit mir; mit dem Amerikaner; mit seiner Frau – ich glaube, das ist nicht weiter relevant.
“Schließlich ist noch der Sex von ganz besonderer Bedeutung, nicht wahr, Gertie? Wir haben dreimal täglich Sex, Gertie und ich, wissen Sie?” Sie lachen beide und halten sich verschwörerisch an den Händen.
“Wie bitte?” krächze ich.
“Ja, dreimal täglich. Das hält die Liebe jung. In der Tat haben wir sogar ein Kämmerchen hier hinten, eigens für das Liebesspiel, nicht wahr, Gertie. Wollen Sie mal sehen?”
“Ach nein, wirklich?” Ich folge seinem Zeigefinger zu einem Perlenvorhang, der von einem Regal mit Schneekugel-Schweinen eingerahmt wird. ”Äh, nein, d-danke. Sehr liebenswürdig. Aber nein. Hören Sie, ich muss jetzt wirklich los, ja?”
“Ja, gleich da hinten. Haha.”
“Ja, äh. Erstaunlich. Haben sie keine Angst, dass Ihre Kunden, sie, naja …” Versuchsweise lege ich den Rückwärtsgang ein, während ich spreche. Sofort pralle ich gegen zwei Rücken. “What the …”, murmelt jemand.
“Ach, nein. Wissen Sie, unsere Kunden sind wie die Kinder, die wir nie hatten. Da bleibt also alles in der Familie, was Gertie?” Er lacht und gibt ihr einen schmatzenden Kuss auf den Mund. Gertie scheint das meiste nicht wirklich mitzubekommen, aber sie strahlt darüber hinweg und sieht dabei ein wenig aus, wie Inuit früher in alten Kinderbüchern ausgesehen haben: irgendwie rundlich, mit leder-braunem Gesicht und leder-verkniffenen Zügen – sie erinnert mich an Charles Bronson inklusive Schnauzer – sie hat sogar dessen dünnes, schwarzes Haar, trägt es aber zu einem festen Dutt geknotet. Das hätte Charles Bronson auch gut gestanden, denke ich matt.
“Achso. Na gut.” Ich bemühe mich zu lächeln. “Also Sie … haben keine Magnete? Meine Bekannte steht nämlich auf …” – Er schüttelt schon heftig den Kopf – “Postkarten vielleicht? Ansichtskarten? Ja! Die mag sie auch noch ganz gerne.”
“Nein, leider. Aber wer braucht schon Magnete? Oder Karten? Außer, es sind Karten mit Schweinen, nicht wahr?” Er lacht. “Aber Magnete und Karten sind nie mit Schweinen, wissen Sie? Nicht wahr, Gertie?”
“Na, ich weiß nicht so recht.”
“Das Resort hat alles im Griff. Wir wissen hier, was gut für Sie ist!”
“Ja? Was denn?”
“Na Liebe! Und Erholung! Und Entspannung! Und Sex! Vor allem guter, regelmäßiger Sex! Und Einkaufen! Das Resort hat alles!”
Er spricht und spricht – wieder, ohne sich an jemand bestimmten zu wenden.
Ich denke an das Telefonat mit Agnes gestern Abend …
“Wissen Sie, wir sind sozusagen die Original-Schweinchen”, sagt der Weihnachtsmann inzwischen und wiehert wie ein Pferd. Auch seine Frau lächelt ein wenig in sich hinein, zu mehr scheint sie nicht imstande. Sie muss den Witz schon eine halbe Million Mal gehört haben und doch …
“Das muss wahre Liebe sein.”
“Also keine Magnete und keine Karten”, sage ich. “Danke trotzdem. Also dann. Auf wiedersehen, nicht wahr?” Diesmal bin ich wild entschlossen. Scheiß auf das, was er von mir hält. Scheiß auf seine Schweine. Und scheiß auf die ganzen Idioten mit ihren alten runzeligen Frauen und den Pullis und den Fotoapparaten hier drin.
“Ja, auf wiedersehen!” schreit der Alte, “Suchen Sie sich doch ein nettes Schweinchen aus und schenken es Ihrer Freundin!” Das ruft er mir nach.
“Ich hab’ leider keine.” Ich weiß nicht, warum ich das sage. Vielleicht aus Verlegenheit – aus der Verlegenheit heraus, aus der man Magnete oder Postkarten schenkt.
Halb erwarte ich, dass die Musik im Laden schlagartig aufhört zu spielen; dass sich alle nach mir umdrehen, Sonnenbrillen von Augen gleiten, Münder offen stehen bleiben, wie in einem alten Western-Saloon …
Nichts davon geschieht.
Stattdessen ruft der rosa Alte: “Na ist doch klar. Weil sie kein Schweinchen haben!”
Ich höre ihn noch von draußen, schon, als ich über der Schwelle bin. Ich drehe mich ein letztes Mal nach ihm um, sehe, wie Gertie lacht und ihm etwas ins Ohr zu flüstern scheint. Dabei lässt sie jedoch den Blick nicht von mir. Ihre kleinen, schwarzen, verkniffenen Charles Bronson-Augen funkeln mich an. Selbst noch auf diese Distanz sehe ich sie funkeln. Funkeln. Ein Schauer läuft mir über den Rücken.
Ich glaube, für sie wird es wieder Zeit.

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