Der Bewegungsmelder springt an. Er klickt. Die Nacht um mich herum verschwindet. Es ist da nur die Kälte, die bleibt. An ihre Seite springt die senfgelbe Hauswand, die ich schon so lange nicht mehr sehen kann. Wie seltsam, denke ich. Sie ist mir so vertraut und doch so fremd geworden – wie schnell einem Dinge fremd werden: am Weg vom Flugplatz bin ich an Plätzen vorbeigekommen, die ich kenne, und an Straßen, die ich schon tausendmal entlang gefahren bin. Ich kenne sie nicht mehr. Die Plätze entvölkert, die Straßen aufgerissen. Sie bauen dort jetzt neue Plätze und neue Straßen, die mir nichts sagen.
Als Kind war ich einmal auf Klassenfahrt, Skikurs, irgendetwas in der Art. Als ich zurückkam, nach gerade einmal einer Woche, da schien mir die Welt, meine Heimatstadt und alles in ihr, wie ausgewechselt. Der Bus mit uns Halbstarken, stinkend und voll, laut und dreckig, rollte über die Südeinfahrt, wo das Stadion heute noch steht, das ich auch nicht mehr kenne, und an allen Wänden und an allen Litfaßsäulen hingen Plakate, die ich noch nie gesehen hatte. Diese eine Woche hatte genügt, um all die alten Plakate zu fressen und unsichtbare Menschen neue aufhängen zu lassen. Ich staunte. Ich gaffte. Ich fühlte irgendetwas. Ich hatte den Anschluss an die Welt da draußen verloren, während sich meine eigene in dieser einen Woche Normalzeit mit Monaten von Eindrücken vollgesoffen hatte. Welten drehen sich unterschiedlich schnell. Das war es, was ich dachte. Zeit dehnt sich und schrumpft. Das war es, was ich fühlte.
Vielleicht bilde ich mir das auch heute nur ein. Vielleicht war ich zu solchen Gedanken damals noch gar nicht fähig. Vielleicht bin ich es auch heute noch nicht, was weiß ich. Ich dachte heute wieder an all das, während ich vom Flugplatz herein fuhr und an den Plätzen und an den Straßen und am Stadion und an den Litfaßsäulen vorbeikam, die ich nicht mehr kannte. Auch sie lagen nicht mehr im Dunkel. Sie hatten ihr Gesicht offenbart; hielten es in scharfe Lichter.
Der Bewegungsmelder springt an. Er klickt. Die senfgelbe Wand springt an. Sie klickt aber nicht. Auch sie kenne ich nicht mehr. Ich greife nach dem Schlüssel in meiner Hosentasche, suche, finde ihn nicht. Ein Huschen von Panik. Ich stelle meine Tasche ab, nehme die zweite Hand zu Hilfe, um die Hosentasche von außen zu lupfen, greife weiter und suche. Ich suche und es wird kühl. Ein Auto fährt vorbei. Ich spüre Augen im Genick. Nässe auf Reifen. Wann hat es geregnet? Ich suche und es wird dunkler. Der Bewegungsmelder springt an, er klickt, doch es ist schon hell. Ich verrenke mich, bohre mit der Faust nach dem Boden der Tasche, wühle, rühre. Kein Schlüssel. Ein Schüsschen mehr Panik. Ich trage meine Habseligkeiten, die ich eben mit mir herumtrage, immer in derselben Anordnung in denselben Hosentaschen mit mir herum. Sie dort nicht zu finden, wirft mich aus der Bahn. Ich suche und es wird noch einsamer hier …
Klassenfahrten, denke ich, von Klassenfahrten heimzukommen, da wird man abgeholt – keine Schlüssel und keine Bewegungsmelder, die senfgelbe Wände einsam machen und fremd. Nein, da stehen Eltern vor ihnen und winken und freuen sich und lachen. Ein Freund von mir, der die Fahrt über, die ganze verdammte Fahrt über, Dosenchips gefressen und dann gekotzt hatte, die ganze verdammte Fahrt über, sein Name war Bruno oder so, wurde von seinen Eltern abgeholt, die ihm sogar noch mehr Dosenchips mitgebracht hatten. Umarmungen, Küsse. Wo war meine senfgelbe Mutter gewesen? Unter wessen Bewegungsmelder hatte sie an diesem Abend gestanden?
Natürlich: der Schlüssel steckt in der Tasche, die ich eben abgestellt habe, so wie er immer in der Tasche steckt, anstatt in der Hosentasche, wenn ich wegfahre. Er ist dort sicher. Sicherer – ss ist wichtig, dass Dinge, die wichtig sind, sicher sind, wenn man wegfährt.
Ich bücke mich nach der Tasche, finde den Schlüssel in ihr. Diese Tasche kommt mir nicht fremd vor. Sie war ja auch bei mir. Immerzu bei mir. Mit dir. Ich spüre Weiches und Festes in ihr. Meine Hand schließt sich um Plastik von Kabeln, um Papier von Büchern und um Stoff. Es ist warm im Inneren dieser Tasche. Es ist erstaunlich. Es ist wie das Innere eines Tieres. Es ist weich. Wie eine Vagina vielleicht – ja, das ist es, was ich denke –, wie eine sehr trockene, sehr warme Vagina. Es ist verrückt. Dann fühle ich etwas Kaltes und weiß, es muss der Schlüssel sein! Es klimpert ein wenig – schön. Doch darunter … darunter, da ist ein Knirschen. Ja, ein Knirschen ist da auch! Ein Knirschen, denke ich mir. Ein Knirschen und ein Schlüssel in einer Vagina … Etwas Feuchtes legt sich an meine Finger, aber ich weiß, während ich mich vornüber beuge und mir das Blut und das Schnaufen ins heiße Gesicht fährt, dass da nichts Feuchtes sein kann. Oder doch? Riecht es nach Meer, nach Salz? Oder riecht es nach dir und deinem Schweiß; Deodorant, Tränen und Parfum …?
Wie albern.
Tränen, Meer und Salz. Dazwischen sitzt ein kleiner Mann und möchte in den Arm genommen werden. Vielleicht so etwas wie ein Zwerg. Ja, ein Meereszwerg. So riecht es in der Tasche und so fühlt sich dieses Knirschen an meinen Fingerkuppen an.
Wie albern. Dosenchips und Kotze. Wie albern.
Ich schließe die fremde Haustüre auf. Der Bewegungsmelder springt an. Er klickt. Doch es muss nicht Licht werden, weil es schon Licht ist. Auch das Stiegenhaus wird mir auf der Stelle fremd, sobald es in diesem Licht erscheint – auch die Wohnung. Es stinkt in der Wohnung. Nicht nach Meer, sondern nach Muff, nach Schimmel und Staub. Alberne Zwerge, die dort sitzen und weinen und streng riechen – nur nicht nach Salz, nicht nach Tränen und nach Meer – leider. Wie lange war ich nur fort? Es ist sehr heiß. Meine Brille beschlägt im Vorraum, ein Schleier ergreift mich und ein unbestimmter milder Zorn, der mich immer ergreift, wenn die Zoten des Lebens an meinen Nerven rütteln. Es ist eine weitere Sache, die du nicht an mir magst. Du sagst es mir oft.
Auch der Vorraum wird mir im Licht der weißen Lampe fremd. Ich stelle die Tasche ab. Erneut denke ich an das Knirschen in ihr, an ihre Wärme, an die Weichheit und dann wieder an das Knirschen. Ich muss weg; weg von ihm. Dunkelheit in den Räumen. Licht, das langsam aus dem Vorraum in sie kriecht. Die Stille, in allem liegt, ist drückend. Wie die Hitze und der Gestank. Und das Knirschen. Ich lege ab, öffne die Fenster, regle die Heizung nach unten. Finde die Pflanzen – tot. Wie erwartet. Die alte Nachbarin hat vergessen, worum ich sie gebeten habe.
Auch gut. Das ist es, was ich denke: Auch gut.
Dosenchips und Kotze – danach noch mehr Dosenchips und eine Umarmung. Küsse. Ich bin allein. Niemand kommt. Ich schultere die große Sporttasche, die mir der schwitzende, stinkende Busfahrer gibt, während er ächzt und auf einer Kippe im Mundwinkel kaut. Ich gehe heim. Allein. Da wird niemand sein. Auch gut. Auspacken. Ankommen. Lüften. Totes gießen. Ein Glas Wasser trinken. Schuhe von den Fersen treten. Checklisten abarbeiten. Leben aufnehmen. Unordnung in Alltägen beseitigen. Check. Auch gut. Wo fange ich nur an? Dosenchips und Meer. Du. Deine Tränen und der Meereszwerg … Ich sitze auf dem Bett. Lausche auf eine Art Nachhall in mir – den Wiederschein von tausend Gefühlen, Fetzen, Wörtern aus Mündern. Bilder rasen in meinem Kopf, tanzen mit Gedanken. Meer. Riecht es hier nach Meer?
Wieder denke ich an den Skikurs von damals … oder war es eine Klassenfahrt? Dieter Mönchinger, der kleine, hässliche Dieter Mönchinger, der nie von dieser Klassenfahrt zurückgekehrt ist. Er hat sich mit einer Kordel seiner Jogginghose erhängt. Wer macht denn sowas? Das war es, was die Lehrerin sagte, als sie ihn unter einem weißen Leintuch im Gang der Herberge an ihr vorüber trugen. Sie sagte es zu einem Kollegen und sie sagte es leise und sie sagte es, wie etwas, das nach Oliven mit Nutella schmeckt. Daran denke ich und sitze auf meinem Bett.
Es ist dunkel im Schlafzimmer. Noch. Wenn ich das Licht einschalte, das weiß ich, dann wird auch das Schlafzimmer mir fremd geworden sein. Ich warte. Noch nicht. Ich warte.
Es wird gleich kühler, der Gestank vergeht. Die Worte bleiben. Dieter Mönchinger bleibt. Nur du bleibst nicht.
Ich würde gerne weinen. Weinen, wie der Meereszwerg. Weinen, so wie du, auf diesem Korbsessel am Strand. Wann habe ich das letzte Mal geweint? Damals, auf der Klassenfahrt? Wegen Dieter? Nein. Natürlich nicht. Halbstarke weinen um nichts, als um sich selbst.
Die Lehrerin, ja die Lehrerin, die hat geweint – die andere, nicht die mit den Oliven und dem Nutella – nein, die nette; eine dicke Person. Die hat geweint. Sie erinnert mich an dich, so wie du in diesem gepolsterten Strandkorb geweint hast. Nicht, weil du ihr ähnlich siehst, nein – eher, weil du weinst wie sie.
Ich sitze und denke ans Weinen, anstatt zu sitzen und zu weinen, wie ich es gerne würde. Das glaube ich zumindest. Ich sitze. Mein Bett erscheint mir sehr hart. War es immer schon so hart? Du hast einmal etwas dergleichen gesagt. Ich fühle die Bettwäsche mit meiner Hand. Ich streiche darüber, streiche sie glatt. Ich habe mein Bett nicht gemacht, bevor wir fuhren. Ich mache mein Bett nie. Darüber beschwerst du dich oft.
Ich warte. Warte. Fühle und warte. Der Stoff unter meiner Hand ist kalt und wird so schnell wärmer. Ich wollte so gern, dass du mich in den Arm nimmst, wie eine Mutter ihren Zwerg eben in den Arm nimmt. Kleine Männer ohne Ausweg, denke ich.
Vom Vorraum her höre ich das Knirschen. Leise. Wieder spüre ich eine Feuchte auf den Fingerkuppen, die noch auf den Laken liegen, auf der glatten, langsam wärmer werdenden Decke. Ich weiß, dass es keine Feuchte ist, so wie ich weiß, dass es kein Salz ist, das mir in der Nase juckt – und doch … Werde ich krank?
Ich stehe auf. Nicht weil ich will, sondern weil der Hunger es will. Ich sehe in den Kühlschrank, in ein paar Regale, finde nichts; keine Weichheit, keine Wärme, keine Vagina, nur leere Schränke in einem leeren Raum in einer dunklen, leeren Wohnung, die nicht mehr die meine ist. Fremde. Warum kann ich nicht mehr weinen? – so wie Dieter, so wie der Zwerg am Meer. Oder so wie du.
Wieder das Knirschen. Warum will es nicht vergehen? Es raunzt nach mir, wie eine Katze, die hereingelassen werden will. Die Tasche im Vorraum, verwaist, hingestellt und schwer – das einzige, das mir in diesem Leben noch nicht fremd erscheint. Immerhin war sie bei mir; die ganze Zeit bei mir. So wie du. Wie lange ist das her?
Ich sehe nach der Tasche. Sie ist noch da. Im Licht, im fremden Vorraum. Ich hole sie aufs Bett, stelle sie dorthin, wo ich bis eben noch gesessen habe; wo ein Fleck von Wärme besteht, von plattgedrückten Laken und Decken, in einem Viereck von Fremdheit und Licht, das aus dem Vorraum ins Schlafzimmer fällt. Ich öffne das Fenster, dann die Tasche auf dem Bett. Kühle. Von unten klickt der Bewegungsmelder. Der Duft von Regen dringt herein. Ich denke an dich.
Schmutzwäsche; ein Buch, das jetzt über ein Eselsohr verfügt; ein Kulturbeutel; Kondome – fast die gleiche Menge, die ich eingepackt habe. Die glatte Bettwäsche im viereckigen fremden Fleck füllt sich mit Leben, das aus der Tasche quillt. Auch dieses Leben scheint mir fremd. Immerhin riecht es angenehm nach deinem Schweiß. Auch dieses Leben war mit bei mir. Wo ist es jetzt? Hier, auf diesem Bett – oder doch auch irgendwo dort, wo du jetzt bist? Noch einmal fasse ich mit der Hand zwischen all die weichen Dinge, die Hemden und die Unterhosen und die Socken, und spüre die Wärme und die Weichheit dieser trockenen Vagina …
Wie albern.
Wieder fällt mir Dieter Mönchinger ein, der niemals eine Vagina gespürt haben wird. Ich sehe nach dem Plafond. Noch immer brennt dort kein Licht; noch immer schweigt die Glühbirne unter dem Lampenschirm, der da hängt. Du hasst diesen Lampenschirm, aber mir gefällt er gut. Wie ein Lebewesen kriecht das Knirschen in meinen Verstand. Noch während ich nach dem Lampenschirm sehe, ist es da. Es begrüßt mich, es kommt herein, sagt Hallo. Die Katze schnurrt. Ich muss sie füttern, muss nach ihr sehen. Sie kennenlernen. Sie auf Zecken und auf Wunden überprüfen.
Die Tasche ist endlich leer – und doch nicht leer. Das Knirschen ist noch in ihr.
Ich setze mich neben sie. Setze mich auf Unterhosen und Kondome.
Noch einmal fasse ich in sie hinein. Hinein in diese leer gewordene, kalt und kratzig gewordene Vagina.
Ist sie diesmal feucht – wirklich feucht?
Träume ich wieder – so wie du es mir immer vorhältst? –, träume ich vom Meer, von Straßen und von Plätzen, die nicht klicken und nicht klacken, die kein Licht kennen und nicht die Frage, ob du hier zuhause bist oder nicht?
Ich habe irgendwie mein Leben verloren, so wie der kleine dicke Dieter; nur, dass ich meines wiederfinden könnte – wenn ich das nur wollte; wenn ich nur das Licht einschalten würde, den hässlichen Lampenschirm, den du so verachtest, zu mehr machen würde, als nur zu einem stabilen Deckenbalken mit Haken; sein Licht alles fremdmachen lassen; es ertragen, würde, wie ein Mann – wie ein echter Zwergenmann; schlafen würde; essen würde; hören würde, was hier so knirscht …
Bis zum Ellenbogen steckt mein Arm jetzt in dieser Tasche, die Finger der Hand darin weit gespreizt. Ich halte die Augen geschlossen und höre mein Herz. Etwas steigt in ihm hoch – vielleicht das, was ich verloren habe. Vielleicht das, was nicht mehr mit mir zurückgekommen ist, von diesem gepolsterten Strandkorb am Meer.
Es klickt unter dem offenen Fenster. Der Bewegungsmelder springt an und es könnte mir nicht gleichgültiger sein. Er meldet nicht dich.
Bei mir ist nur die Tasche und das Knirschen in ihr. Feuchte, die vielleicht keine ist. Und eine Erinnerung, die vielleicht die letzte bleiben wird. Ich spreize die Finger, fühle den Sand, tauche in ihn hinein. Die Dunkelheit verlässt mich und das Licht der fremden Wohnung auch. Ich komme jetzt wieder zu dir.

Weil Sand am Meer
Diese eine Woche hatte genügt, um all die alten Plakate zu fressen und unsichtbare Menschen neue aufhängen zu lassen. Ich staunte. Ich gaffte. Ich fühlte irgendetwas. Ich hatte den Anschluss an die Welt da draußen verloren, während sich meine eigene in dieser einen Woche Normalzeit mit Monaten von Eindrücken vollgesoffen hatte …
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