Ich bin jetzt wieder arbeitslos – arbeitsfrei sollte es eher heißen, wenn Sie mich fragen –; ganz unten angekommen, wo ich doch von diesem Unten am meisten verstehe.
Ganz ehrlich? Ich liebe es dort. Am Grund sind alle gleich: Wir Penner stehen da, manche von uns am Arbeiterstrich am Bahnhof, dort, wo früher auch die Mädchen gestanden haben, am Bahndamm, von dem sie bis heute nur eine besprühte, ständig kaputte, angepisste Lärmschutzwand trennt – Sie wissen schon: dieses gewellte, sperrige Ding, das aussieht, wie das Innere einer Spanholzplatte; andere am Arbeitsamt, um sich eine blöde Schnauze anhängen zu lassen oder ein paar verurteilende Blicke oder gleich eine Umschulung zum Computer-Oberchecker-Profi … von wegen. Die meisten von uns Idioten können nicht mal das Handy richtig herum ans Ohr halten, geschweige denn so einen Blechtrottel bedienen. Dass ich nicht lache! Meine Nichte kann das besser als ich – und die ist sieben. Nein, daraus wird nichts, mein Freund – und selbst, wenn es nicht am Können scheitern würde, beim Wollen wäre spätestens Schluss.
Das hab’ ich auch dieser fetten Frau am Arbeitsamt verklickert. Die wollte mir gleich so einen Umschulungskurs aufschwatzen – irgendetwas mit alten kranken Leuten oder Behinderten oder so, nein danke. “Denen wischen Sie den Arsch schön selber aus, gute Frau”, sag’ ich zu ihr, was glauben Sie, wie die geschaut hat? Da war sie aber ganz schnell ganz still.
Was bildet die sich eigentlich ein? Ich habe brav und anständig gearbeitet – geschuftet hab’ ich, die letzten eineinhalb Jahre – und davor war ich eben etwas länger arbeitslos, aber die letzten eineinhalb Jahre – ja, gut, mit der einen kurzen Spanne – also, ein dreiviertel Jahr war ich jetzt bestimmt beim Taxiring, aber mindestens. Und da fängt diese fette Qualle wieder mit irgendwelchen alten Kamellen an und dass das so nicht geht, dass ich hier schon wieder aufschlage und all das.
Als ob ich scharf darauf wäre, bei der fetten Qualle aufzuschlagen. Aber der hab ich’s eh gegeben, fragen Sie nicht. Die hat geschaut.
Ich meine – allein schon ich mit meinem Kreuz, mit dem konnte ich ja auch beim Taxiring oft mal kaum aus dem Wagen aussteigen, um den Kofferraum aufzumachen oder was auch immer – und dann will die, dass ich alten Leuten und Behinderten den Arsch auswische und die in der Gegend ‘rum hebe oder was, na kommt doch gar nicht in die Frage!
Jetzt ist wenigstens mal Ruhe. In drei Wochen muss ich wieder hin und dann wird man sehen, hat sie gesagt. Ganz rot war sie im Gesicht, das war großartig; richtig geschwitzt hat sie unter ihrer roten Katzenbrille und in ihrem hässlichen geblümelten Hauskleid – alles Polyester, übrigens, das hab ich gleich gerochen, am Schweiß und an diesem Plastikgeruch, aber das nur nebenbei. Ich habe ja so eine gute Nase, wissen Sie? Ich habe aber nichts weiter gesagt. Ich will keinen Ärger.
Kann sein, dass ich jetzt ein paar Wochen oder so kein Geld bekomme, wenn die sich wieder mal schön alles ausmachen und mir ‘nen Strick draus drehen, dass ich zu diesem Kurs nicht …
Naja.
Aber die werden schon sehen, wer den längeren Atem hat. Mir ist es ja gleich. Ich meine, was brauche ich schon viel? Meine Zigaretten, ein bisschen Verpflegung – Sie verstehen. Ich wohne jetzt ja wieder bei meiner Mutter – Henriette hat gesagt, so wird es am besten sein. Sie nimmt dann die alte Wohnung, in der ich bis vor kurzem noch gewohnt habe – ich war ohnehin kaum dort, bei den ganzen Terminen, die ich beim Taxiring hatte und den Nachtschichten, in denen ich Idiot mir den Buckel krumm geackert habe – Henriette gibt dann Bernd die Wohnung. Der braucht sie, weil er jetzt eine Freundin hat. Bernd ist unser Sohn – also: ihr Sohn, um genau zu sein, aus erster Ehe. Bernd ist in Ordnung, aber Henriette ist ein Biest – achso, das wissen Sie natürlich nicht: Henriette, das ist meine Frau. Wir leben zur Zeit nicht zusammen, also sozusagen getrennt, wenn Sie so wollen. Henriette hat also gesagt, ich soll doch Bernd die Wohnung überlassen, dann hat alles seine Richtigkeit; und dass ich doch vernünftig sein soll … Naja, was tut man nicht alles für die Frauen, nicht wahr?
Jedenfalls wohne ich jetzt wieder bei meiner Mutter. Das ist ganz praktisch. Muttschi ist nicht mehr so gut auf den Füßen – sie hat es leider überhaupt mit der Gesundheit. Aber Muttschi kocht gut und reichlich. Sie raucht auch immer noch, da fällt es nicht auf, wenn mal eine Packung oder zwei abhanden kommen. Sie merkt ohnehin nicht mehr so viel. Also, worauf ich hinaus wollte: Was wollen die mir schon anhaben, die Schweine vom Arbeitsamt? Nichts können die mir, aber rein gar nichts. Ich bin mein eigener Herr, wie man so sagt.
Und überhaupt: Hans hat gesagt, wenn ich wollte, könnte ich mit meinem Kreuz ohnehin in Frühpension gehen – locker, das hat er gesagt; das waren seine Worte, fragen Sie ihn selbst, wenn Sie’s nicht glauben. Und Hans, der ist Anwalt und hat schon Mörder vertreten und alles – den einen Typen aus dem Fernsehen sogar, der seine Frau zerstückelt und in eine Gefriertruhe im Gemeinschaftskeller gesteckt hat – was für eine blöde Idee, eigentlich, eine Leiche in einem scheiß Gemeinschaftskeller zu verstecken, aber naja … wissen Sie noch, das war letztes Jahr in allen Zeitungen, sogar im Fernsehen und all das …?
Hans hat also gesagt – achso, das können Sie ja auch nicht wissen: Hans, das ist der Bruder von Gerhard, das ist der Neue, also der aktuelle Bekannte von Henriette, ein ziemlicher Vollidiot, unter uns gesagt; ziemlicher Prolet, aber das haben Sie nicht von mir, ja? Aber Hans ist in Ordnung – also, Hans hat das auch gesagt: die vom Arbeitsamt können mir gar nichts und wenn ich wollte, könnte ich sofort in Frühpension gehen, mit meinem Kreuz – also Schönen Gruß von Hans! fette Qualle.
Naja. Immerhin wollten Sie mir keinen Computer-Blechtrottel-Kurs aufschwatzen, wie Reinhard. Reinhard, damit Sie’s gleich wissen, das ist ein Kumpel von mir. Aber sonst gibt’s über Reinhard nicht viel zu sagen, außer, dass er zu viel säuft – aber das haben Sie auch nicht von mir. Reinhard muss jetzt einen Computerkurs machen, aber wie gesagt: unwichtig.
Ich bin nur froh, dass ich aus dem Schneider bin. Weh getan hat mir nur, wie man dort auf diesem scheiß Amt behandelt wird – ich sage es Ihnen, wie es ist: als Mensch zweiter Klasse wird man dort behandelt, jawohl. Ich meine – nicht, dass ich auf eine Sonderbehandlung aus wäre, nur weil ich ein fleißiges Mitglied der Gesellschaft gewesen bin, die ganze Zeit – ich meine, immerhin steht mir das Arbeitslosengeld ja zu, nicht wahr? Ich habe es ja immerhin mit meinen eigenen Abgaben und all dem bezahlt, oder nicht? Nein – nicht, dass ich auf Händen getragen werden müsste – ich halte schon so alles aus, ich bin ein harter Hund, wie man so sagt. Hart im Nehmen und das alles. Ich war immerhin beim Bundesheer, bis zum Gefreiten hab’ ich es da geschafft. Fragen Sie meinen Freundeskreis, die werden Ihnen das alles bestätigen, was für ein Hund ich bin und all das – aber diese Behandlung dort, am Arbeitsamt … Jetzt direkt, wenn ich daran denke, werde ich schon wieder sehr emotional. Ich muss mich richtig zusammennehmen. Ja, diese Behandlung dort – ich hab’s meiner Muttschi vorhin schon so gesagt – ist würdelos. Ich meine, man hat doch als Mann ein wenig Respekt verdient, oder nicht?
Diese Blicke, die Urteile, die unausgesprochenen Vorwürfe – vielleicht kennen Sie das ja selbst – man ist so richtig Mensch zweiter Klasse, ja das trifft es wirklich gut. Und wie sie einen schon anfahren – oder aufrufen! – für die ist man doch nichts als eine Nummer. Und dann diese ständigen Unterstellungen, dass man unwillig wäre, sich neuen Herausforderungen … und den ganzen Scheiß und wie sie das alles nennen … Nein – wirklich – eine Frechheit ist das. Nicht einmal einen scheiß Computerkurs traut man einem dort zu – das hat mich schon ein wenig beleidigt, muss ich offen zugeben.
Wenn die wüssten, was ich alles kann!
Ich meine: na klar, wenn die mich sehen – so leger, wie ich eben unterwegs bin, wenn ich meine Besorgungen erledige und all das – und wenn man das hört: Taxifahrer und was ich sonst noch so davor gemacht habe – na klar, dann hält man mich für die gleiche Pfeife wie Reinhard oder diesen Gerhard oder so und vielleicht haben sie damit ja auch ein wenig recht: Ja, ich gestehe: ich bin ein einfacher Mann von der Straße. Und wissen Sie was? Ich bin stolz darauf.
Aber ich sag’ Ihnen auch noch was: Das war bei mir nicht immer so, wissen Sie? Ja, Sie hören recht. Vor langer Zeit mal, da war mein Stern ganz steil am Steigen und all das. Meine alte Muttschi hatte schon den Schampus kaltgestellt und sich für ihre Pension die schönsten Dinge ausgemalt. Wo Burli sie nicht überall hin kutschieren würde. Nach Gran Canaria sollten wir fliegen und in Prunk und Enkeln sollte sie ersticken – wer weiß, vielleicht würde ich eines Tages sogar mal ein Häuschen im Grünen haben oder eine Eigentumswohnung, wer weiß das schon.
Bei uns in der Familie hat man kein Häuschen und auch keine Eigentumswohnung; bei uns hat man einen Bausparvertrag, einen Kredit bei der Bank und das große Flehen in den Backen, dass bis zum nächsten Urlaubs- oder Weihnachtsgeld nicht irgendwas im Haushalt den Geist aufgibt – die Waschmaschine oder der Herd oder der Kühlschrank oder so – weil was hin wird, das bleibt auch hin, bei Leuten wie uns, verstehen Sie? Aber wie gesagt: das war nicht immer so, bei mir. Nein. Ich war mal wer, für ‘ne kurze Zeit, ob Sie’s glauben oder nicht. Ich habe nämlich die Handelsakademie absolviert. Ja! Sie hören richtig – mit Matura und Abschluss und allen Ehren. So ist es! Jetzt staunen Sie, was? Ich wette, jetzt schauen Sie mindestens so bedröppelt drein, wie die fette Qualle, heute am Arbeitsamt.
Das ganze kam so: mein Vater war recht bald nach meiner Geburt abgezischt – aber nicht einfach so, wie andere Nullachtfuffzehn-Väter abzischen, sondern mal so richtig: er hat sich bis nach Südafrika abgesetzt, wie es heißt – die ganze Geschichte, wie meine Muttschi ihn kennengelernt hat, sie beide gerade erst siebzehn, er schwieriges Elternhaus, sie gerade mitten in der Schule und schon schwanger – also, das alles hier jetzt herunterzubeten, würde den Rahmen sprengen, oder wie das heißt, und das ist mir jetzt auch zu blöd. Jedenfalls ist er so richtig großkalibrig abgezischt und hat den Staat so um ein ganz schönes Sümmchen Unterhalt gebracht, das jetzt sozusagen die Allgemeinheit für mich kleine Kröte zu löhnen hatte, was nicht sonderlich gut ankam und meinen alten Herren gewissermaßen zu einem Gesuchten Mann hierzulande machte. Aber das nur nebenbei. Mit seiner Mutter blieb der Idiot jedoch in Kontakt und über sie ließ er meiner Mutter und später auch mir manchmal kleinere Botschaften und etwas Kohle zukommen – ob Sie’s glauben oder nicht: er hat es da unten so richtig zu etwas gebracht, in Kapstadt – ich hab das mal nachgeschlagen, wie es dort heißt und aussieht und so, weil mich das natürlich schon interessiert hat, wo mein alter Herr seinen Privatjet geparkt hat und alles, nicht wahr? Sieht ganz lauschig aus – er hat wohl in Immobilien gemacht, kaputte Häuser gekauft, die dann renoviert und teuer wieder verkauft – passt ja, wenn er Tischler ist. Habe ich das erwähnt?
Na, jedenfalls schickt er uns dann eines Tages Geld – und zwar einen ganzen Batzen: allerdings bekommen wir den nur unter der Bedingung, dass ich die Handelsakademie besuchen muss – damit es sein Sohn einmal besser hätte im Leben als er, der arme Heimatvertriebene … bla-bla-bla, den ganzen Scheiß. Ich glaube, mein Vater ist ein ziemlicher Prediger, aber das nur nebenbei. Das Beste auf jeden Fall kommt noch: wenn ich einen Abschluss hinbekommen würde, schreibt er weiter, und das auch noch mit guten Noten, dann gäb’s zum achtzehnten Geburtstag ein fettes Auto obendrauf – einen geilen Opel Astra, tiefergelegt, mit fetter Schürze und allem drum und dran – umso besser die Noten, desto geiler die Extras, my Son … das schreibt der alte Idiot und legt noch ein Foto dazu, von sich und seiner neuen Frau und von meinen sozusagen Halb-Brüdern und -Schwestern; allesamt stolz und glücklich und kohlrabenschwarz, vor einem ganzen Fuhrpark von Sportwagen – jetzt weiß ich also auch, woher ich diese Leidenschaft habe … Na jedenfalls: Was glauben Sie, wie ich mich da ins Zeug gelegt habe? Handelsakademie! Ich! Der kleine Rotzlöffel aus der Siedlung am Stadtrand! Ich war einer der besten in meiner Klasse – naja, so ungefähr, zumindest.
Was waren das für glückliche Jahre! Harte Jahre – ja. Gelernt habe ich, wie der Teufel und geschenkt hat man uns dort nichts. Natürlich. Aber wie hoffnungsvoll wir alle waren! Uns stand die Welt offen, alles schien möglich! Wir waren schon eine tolle Truppe, damals – der lange Jürgen, der Fettmenschen-Thomas, der Patrick mit den Bauernhänden, der feine Zwirni, der Ochs-vorm-Berg-Siggi, der Plunder Markus, den wir immer bis aufs Blut traktiert haben, den armen Hund; der Froschaugen-Frodl – und wie sie alle geheißen haben … Ja, ich hatte Freunde, gute Freunde. Und das Beste an ihnen war: das waren ganz andere Menschen, als die, mit denen ich in unserer scheiß dreckigen Siedlung am Stadtrand aufgewachsen bin, wissen Sie? Das waren junge Menschen, deren Väter allesamt Anwälte und Richter und Ingenieure waren und so piekfeine Leute – stellen Sie sich vor – und ich mittendrin! Die haben alle Hemden getragen, weiße, leuchtende Anzughemden, wenn sie meine Kumpels am Freitag abholen gekommen sind – Hemden! In Ihrer Freizeit! Mit fetten Cabrios sind sie dagestanden, am Augartenkai oben, wo die Handelsakademie damals noch war – heute ist sie ja in den Neubau umgezogen, aber den kennen Sie vielleicht eh. Ich sehe die ganzen tollen Limousinen heute noch vor mir, die höflichen Glückwünsche, die strahlenden, braungebrannten Gesichter, die ganzen Menschen, die eigenes Geld und ein eigenes Leben haben – und nicht nur eines, das zum größten Teil der scheiß Bank und zum noch größerem irgendeinem Lohnherren gehört, wie bei mir zuhause.
Ich hatte meine erste Freundin. Juliane. Meine Muttschi war so stolz auf mich. Sogar mein Vater hat mir noch einen Brief aus Südafrika geschrieben, ein so langes Teil – maschinengetippt, stellen Sie sich das vor, auf fünf vollen Seiten, wieder mit Fotos! Stolz wäre er auf mich und dass ich es bestimmt noch weit bringen würde, mit diesem Elan und so, das hat er geschrieben. You have a big Elan oder so, hat er geschrieben. Ja, mir stand wirklich die Welt offen, wie man so sagt.
Und dann kam die Matura – und damit das versprochene Auto und was soll ich sagen: es war verrückt – es war, als ob diese verdammte Karre verflucht gewesen wäre!
Also, verstehen Sie mich jetzt nicht falsch: ich bin nicht abergläubisch oder so, aber jetzt, so im Nachhinein betrachtet, ist es schon verrückt: von dem Moment an, da ich diesen scheiß tiefergelegten Opel Astra mit allem drum und dran vom Autohändler an der Fabriktorstraße draußen geholt habe, ging bei mir alles schief. Mein ganzes Leben ging den Bach runter – ich weiß gar nicht, wie oft ich darüber schon nachgedacht habe, es ist verrückt. Erst gestern hab’ ich wieder mit Muttschi darüber gesprochen: sie sagt auch, dass es verrückt ist.
Zuerst war noch alles in Ordnung. Ich habe Henriette kennengelernt – ich war gerade beim Bundesheer und sie war total heiß auf meinen neuen, türkisen Ofen. Sie hätten Sie damals sehen müssen: dieser Arsch, diese Beine, gerade mal siebzehn – und diese Frisuren, die wir damals alle hatten! Ich bin immer total auf diese Frisuren abgefahren, ich weiß auch nicht, warum. Juliane hatte sehr wenige Haare, die noch dazu sehr dünn waren, also verließ ich sie und ging jetzt mit Henriette.
Wir machten unglaublich viel am Rücksitz des Opels rum, fuhren mal hierhin, mal dorthin – nach Italien, sogar bis nach Griechenland haben wir’s mal geschafft. Es war herrlich. Dieses Auto machte sie verrückt und sie machte mir darin einfach alles und es brachte uns dafür überall hin, wohin wir auch wollten, als würde es mit Sex fahren, anstatt mit Sprit – leider brachte es uns auch eine Schwangerschaft ein.
Das Leben ist schon lustig, manchmal – speziell, wenn es sich irgendwie zu wiederholen scheint, wie man so sagt: genau, wie meine Mutter war auch Henriette viel zu jung und war auch ich, so wie mein Vater, einfach nicht in der Lage, ein verdammtes Kind zu ernähren – geschweige denn sonderlich scharf darauf. Aber im Gegensatz zu meinem Vater und weil ich weiß, wie es ist, ohne einen aufzuwachsen – und weil mir Südafrika irgendwie zu afrikanisch war und zu heiß und zu weit weg – bin ich geblieben. Oft habe ich darüber nachgedacht, ob das ein Fehler gewesen ist. Aber es war ohnehin egal – Henriette hat das Kind verloren.
Bei einem im Grunde genommen recht unspektakulären Unfall mit dem Opel – wir haben uns nicht einmal überschlagen oder so –, ist ihr Airbag nicht ganz ordnungsgemäß aufgegangen und ihr unglücklich mit dem Gurt gegen den Bauch geknallt oder so und futsch was das Kind. Schon wahnsinnig fragil, so ein Frauenkörper, aber naja. That’s life, oder? Hart aber unfair, sag ich immer.
Aber unter uns gesagt: ich war natürlich erleichtert. Nur Henriette ist komplett durchgedreht – sie wollte das Kind wirklich gerne haben; sie hatte sich sogar schon ihre tollen Haare abgeschnitten, weil Mütter eben praktische Kurzhaarfrisuren haben, wie sie gesagt hat – was für ein Jammer.
Unsere Beziehung hat das nicht überlebt. Sie hat mir immer die Schuld daran gegeben – bis heute, im Grunde.
Sie hat dann recht bald einen anderen geheiratet; einen Schorschi, den haben alle so genannt – Schorschi, als ob er zwölf wäre oder so –, obwohl er immer schon uralt war, fett, rotbäckig, ädrig um die Wangen und ständig angesoffen, mit einem Walross-Schnauzer im roten schweißigen Gesicht; diesen Schorschi, der sie wohl besser hat über den Winter bringen können, als ich. Ich schätze, darum ist es ihr gegangen, aber wer weiß das schon. Immerhin war der gute Schorschi einziger Erbe der alten Zigarettenfabrik am alten Staukanal drüben – den kennen Sie wahrscheinlich gar nicht mehr, heute verläuft das alles unterirdisch, weil die Zuhälter damals ständig ihre toten Nutten in den Kanal geschmissen haben, aber das ist auch eine andere Geschichte …
Von Schorschi jedenfalls ist sie dann auch bald schwanger geworden, so kam der Bernd auf die Welt, von dem hab’ ich Ihnen ja schon erzählt.
Naja, aber auch mit dem Schorschi ist sie nicht glücklich geworden – Kind hin oder her. Der hat sich nämlich bald zu Tode gesoffen, da hat ihm auch die ganze Zigarettenfabrik nichts mehr genutzt. Zu erben gab es auch nichts – die Zigarettenfabrik ging den Bach runter, den alten Staukanal, sozusagen – auf dem Grund steht heute ein Getränkemarkt.
Und auch bei mir ging alles weiter den Bach runter: der scheiß Opel war ständig hin, ich hatte permanent Unfälle mit ihm, war deswegen notorisch pleite – ich will gar nicht wissen, wie viel Geld ich über die Zeit bei der Werkstatt am Brotengrund gelassen habe. Da war ich damals Stammgast, weil wir Buben vom Bundesheer Rabatt bekommen haben – die Kaserne hat da nämlich ihre Reifen gekauft; außerdem haben mich die ganzen Mechaniker schon beim Namen gekannt; na, fragen Sie nicht, die haben schon frohlockt, wenn ich meine Fresse nur erst bei der Tür reingehalten habe: “Der Kurti!” haben sie dann schon von weitem gerufen, “Is’ der Opel schon wieder im Arsch? Was war’s diesmal?” Das hat ihnen allen ungemein gut gefallen. Da haben sie alle gelacht, diese Arschlöcher. Naja.
“Jeder Doppl fährt ‘nen Opel”, hat es damals immer geheißen; der Spruch ist zu dieser Zeit aufgekommen, aber das kennen Sie wahrscheinlich auch nicht mehr.
Wie auch immer. Dann irgendwann war ich mit dem Bundesheer fertig, was allerdings kein Grund zur Freude war. Man kann über diesen Scheißverein ja sagen, was man will: zahlen tut er nicht schlecht – ja, ich will da echt eine Lanze brechen, für das scheiß Bundesheer: so ein Sold, für so einen jungen Menschen – ich meine, wenn man dann auch noch bedenkt, dass man ja praktisch überhaupt nichts dafür tun muss – das ist schon eine tolle Sache. Da hab’ ich viel für’s Leben gelernt, wie es ja auch sein soll. Und was wir gesoffen haben …! Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls hab ich mir dann, plötzlich so ganz ohne Sold, den Opel nicht mehr leisten können – von meinem Lebensstil mal ganz zu schweigen. Stellen Sie sich vor: jeden Tag in der Messe speisen, jeden Tag dort saufen, alles spottbillig, wohnen können Sie in der Kaserne oder bei Muttern – und dann plötzlich: Bumm. Das wahre Leben. Alles selbst zu berappen – ich glaube, ich hab’ da erst herausgefunden, wie viel ein Liter Milch eigentlich kostet und wie viel ein Laib Brot und das alles. Natürlich hat mich das regelrecht in einen Schock versetzt. Ich war einfach nicht bereit dafür, sozusagen. Also hab’ ich mir schleunigst einen Job gesucht – panisch, regelrecht –; egal, alles war mir recht: nur nichts schweres.
So war ich dann bei einer Versicherungsagentur, das war ganz schön und eine tolle Geschichte für einen anderen Tag vielleicht … Ich hab’ da wirklich viele Hausfrauen kennengelernt, immer einsam, immer beeindruckt von den weißen Hemden, die ich damals getragen habe – Sie müssen bedenken: damals war ich ja noch ein fescher Kerl. Vergessen Sie das nicht, ja? Leider bin ich dann eines Tages zusammengeschlagen worden, weil einer der Ehemänner den Opel wiedererkannt hat, der so oft vor seinem Haus geparkt hat, wenn er überraschend nach Hause gekommen ist, und da seine Frau in seltsam nervösem Zustand vorgefunden hat. Da war ich dann nicht mehr so fesch und mein Hemd auch nicht mehr allzu weiß, aber wie gesagt: das ist eine andere Geschichte.
Ich war also eine Zeitlang bei dieser Versicherungsagentur – die hat dann aber Pleite gemacht, nachdem ihr die Finanz auf die Schuhe gestiegen ist – wegen irgendeiner Steuersache, keine Ahnung … auch von Pyramidenspiel war die Rede. Ich bin damals auch verhört worden. Ich habe gesagt: “Ich bin da nur dabei, weil ich da viel Auto fahren kann! Mein Opel muss regelmäßig ausgefahren werden, von Steuern weiß ich nichts, ich schwörs!” – Das hat die nicht sehr beeindruckt, also war ich jetzt auf Bewährung.
Naja, und der Rest ist Geschichte. Dreimal hat mich das Auto noch fast umgebracht – zweimal auf unübersichtlichen Landstraßen, einmal hat es einen neunzigjährigen Geisterfahrer angezogen, wie der rote Fetzen den Stier; der hat mich mit zweihundert Sachen auf der Autobahn nur um Millimeter verfehlt – stellen Sie sich das vor! Mein ganzes ödes Leben ist da vor meinen Augen an mir vorbei gerattert – dann hat es mir gereicht. Aus die Maus – hab ich den scheiß Wagen verkauft. Gebracht hat mir das nicht mehr viel – da war ich schon Hilfsarbeiter bei der Tantrion – Sie wissen schon, die Tierfutter-Firma in … na, Sie wissen schon. Naja.
Ich war da wieder mit Henriette zusammen. Die war zu der Zeit alleinerziehend, aber trotzdem recht anspruchsvoll. Der kleine Bernd war inzwischen in die Schule gekommen – das kostet ja auch alles Geld.
Immerhin war das Auto weg – die Schulden dafür bezahl’ ich heute noch. Aber was soll’s. Immerhin habe ich deswegen die Handelsakademie absolviert, denke ich mir oft. Von der wollte ich ja eigentlich nur erzählen …
Aber was soll ich schon sagen? So ist das Leben, nicht wahr? Alles in allem geht’s mir gut. Ich kann nicht klagen. Ich meine, die Zeiten sind besser geworden: Henriette hat bald einen guten Job gefunden, als Kosmetikberaterin bei einer Drogerie, das macht sie jetzt auch schon wieder seit einer Ewigkeit, ich müsste nachdenken: zehn Jahre mindestens. Der Bub ist auch größer geworden – hat nie großes Interesse daran gehabt, auch, wie sein leiblicher Vater, irgendwie Industrieller oder so zu werden, also mussten wir ihn auch nicht auf die Handelsakademie schicken oder so. Die Zigarettenfabrik kannte der Bub ja ohnehin nur noch von Fotos und seinen Vater aus Erzählungen … Jedenfalls verdient der heute auch selber sein Geld, mit Computern oder so, ich verstehe davon nichts. Es geht ihm wohl gut.
Und mir – mir geht’s eigentlich auch gut – bis auf mein Kreuz natürlich – ich muss wirklich nochmal mit dem Hans reden, wegen der Frühpensions-Sache, ich meine, wenn der Hans das sagt, dann muss da was dran sein; ich meine, der Hans, der hat schon Mörder vertreten und den einen Typen, aus dem Fernsehen, mit der Gefriertruhe und so … Naja.
Jedenfalls geht’s mir gut – bis auf’s Kreuz. Und ich meine: wie auch nicht? Ich bin jetzt wieder arbeitslos, habe Zeit, genieße meine freien Tage – das Leben ist ohnehin viel zu kurz, oder? Ich lasse mir die Sonne auf den Bauch scheinen, wie man sagt, trinke mein Bier – was will man mehr?
Tagsüber sitze ich beim Tjoster, oben am Eck, treffe die anderen Gesellen aus unserer alten Runde, die kenne ich alle schon ewig, die haben auch meistens Zeit. Dann zu Mittag esse ich dort ein Gulasch oder geh heim zu meiner Muttschi, die hat dann schon gekocht – meistens Schnitzel oder Erdäpfel mit Kraut oder sowas, dann trinken wir noch einen Kaffee zusammen, schauen vielleicht noch eine von ihren Sendungen, hören ein bisschen Radio. Das ist sehr nett. Abends gehe ich dann vielleicht wieder in den Tjoster rauf, oder gehe spazieren oder dorthin, wo früher die Mädchen gestanden sind, am Bahndamm, vor der Lärmschutzwand – manchmal trifft man da noch eine von früher. Meistens bleib’ ich aber zuhause und sehe fern. Mein Zimmer daheim sieht noch genauso aus, wie früher, als ich ein Teenager war. Die alten Wimpel vom Fußballverein, ein großes Foto von Südafrika, ein Poster von einem geilen Opel aus den Achtziger Jahren … Es ist alles noch genau so, wie es war. So muss es sein. Es ist wirklich herrlich.
Arbeitsfrei – ja, so muss man das sagen. Das hört sich besser an. Arbeitslos – das klingt ja so, als ob einem etwas fehlen würde. Und was soll mir schon fehlen?
Wie auch immer man es nennt – jedenfalls bin ich jetzt seit drei Wochen frei. Mindestens zwei Jahre hab ich mir den Buckel krumm gemacht, für dieses Arschloch vom Taxiring, Boris, das war sein Name – Boris, das allein schon! Wie irgend so ein scheiß Russki, da hätt’ ich’s schon wissen müssen –, Boris, mein Chef da, hat mich höchstpersönlich eingestellt, handverlesen und all das. Der wusste schon, dass er einen ordentlichen Kapazunder vor sich hat, wenn er einen gesehen hat. Mitten in seiner großen Garage sind wir gesessen, da hat er seinen fetten Schreibtisch aufgebaut gehabt: Bild von der Frau darauf, von den Kindern, Telefon, Blechtrottel, alles drum und dran – sogar eine Sekreteärin, ein verdammt scharfes Luder mit mächtrigen Titten und Minirock laut Dienstvertrag, hat er da in einem kleinen Kabuff neben dem Klo sitzen gehabt, versteckt hinter Jalousien, zwischen Kaffeeautomat und Stechuhr. Schon komisch, wenn ich so darüber nachdenke – schon damals ist mir das seltsam vorgekommen, dass er die Tusse in dieses schöne Büro setzt und sich mit seinem dreckigen Angeber-Schreibtisch in die stinkende, zugige Garage zu all den Autos und Pennern – und nicht umgekehrt, aber naja. Wie sich später rausgestellt hat, hätte mir das alles schon von vornherein klar sein müssen: der Typ ist eben ein Vollidiot – und schwul wahrscheinlich obendrein, wenn er so eine Schnecke hinter einem Glasfenster mit Jalousien versteckt – und wenn die noch so lückig und verbogen waren. Vielleicht hat er sie auch einfach nur nicht leiden können … Zu uns Fahrern war sie eigentlich immer nett – das heißt, solange man seine Finger halbwegs bei sich behalten hat. “Geschaut wird mit den Augen”, hat sie immer gesagt. Mensch, wie hat die denn eigentlich geheißen? Gerti? Oder Greti? Irgend sowas … Nein, Carli! Genau! Komischer Name. Aber wie auch immer: Boris war jedenfalls ein Arschloch.
Zuerst ist noch alles ganz gut gelaufen: er hat mir gute Touren gegeben, kaum Nachtschichten – da hab’ ich ohnehin Glück gehabt, muss ich sagen; das war schon eine gute Sache: Top-Gehalt, eigentlich nie Nachtschicht, außer vielleicht mal zu Weihnachten oder so – aber ich meine, wen interessiert das schon, wenn man dafür so ein Arschloch zum Chef hat? Die ganze Mühe nur, damit dieser Wichser noch reicher wird und sich bald noch eine zweite scharfe Sekretärin ins Nebenzimmer setzen kann – idiotisch. Hören Sie sich diese miese Masche an: wirft der mir doch glatt vor, einen Fahrgast beschimpft zu haben. Der hätte sich telefonisch beschwert oder was weiß ich – ein Arzt! Das kann nicht sein, einen Arzt würde ich nie beschimpfen, sage ich zu Boris und lache, aber der kalte Hund lacht natürlich nicht, wahrscheinlich weil er ein scheiß Russki ist und Russkis nicht lachen, oder was weiß ich. Und dann sagt er, ich hätte angeblich auch noch drei Dellen in den Wagen gefahren und wäre dann auch noch geblitzt worden – ich meine, das kann doch alles gar nicht sein, sag’ ich dem Deppen, ich hab’ doch meine letzte Schicht mit dem Jusuf getauscht, oder mit einem von den Kameltreibern eben – ja, warum dann mein Name im Fahrtenbuch stünde, will der Russki wissen – und da kommt der mir mit dieser blöden Masche: weiß der doch ganz genau, dass das eben manchmal so läuft, mit dem Fahrtenbuch, wenn die Männer sich gegenseitig den Dienst tauschen, das weiß doch jeder, ist doch ein offenes Geheimnis und den Arzt hab’ ich schon gar nicht beleidigt, sage ich ihm, meine Muttschi braucht jede Woche einen Arzt, die ist nämlich sehr krank, sage ich ihm, diesem kalten Russki, aber das will der gar nicht mehr hören. Ihm reicht’s, sagt er – und als ob das alles gar nichts wäre, was ich ihm in den letzten dreieinhalb Jahren an Lebenszeit geschenkt habe und an all den Überstunden und Nachtschichten und all das mit meinem Kreuz, schmeißt der mich einfach hochkant raus. Stellen Sie sich das vor!
Die Kameltreiber haben auch gesagt, das ist ‘ne ganze schäbige Masche und haben sogar noch gelacht, als ich ihnen beim Spind-Ausräumen alles erzählt habe – ja, die haben auch gleich gepeilt, was mit diesem kalten Hund von einem Russki los ist. Naja – von so einem brauchst du eben keine Skrupel erwarten. Dichtet der sibirische Hurensohn mir irgendwelche Anrufe und Ärzte an, damit er mich kündigen kann, das ist doch der älteste Trick der Welt. Das habe ich auch der fetten Qualle vom Arbeitsamt gesagt, als ich das erste Mal bei ihr antraben hab’ müssen und sie mich so provokant gefragt hat, woran’s denn diesmal wieder gelegen hat, dass wir uns schon wieder sehen, Herr Freileb – wie sie das schon gesagt hat – dieses “Herr Freileb” – völlig provokant, als ob ich das nicht ganz genau raushören würde, so über den Rand ihrer scheiß roten Katzenbrille weg, mit ihren kleinen, fetten Rattenquallenaugen …
Ach, ich darf mich ja gar nicht erst so aufregen, das ist schlecht für mein Kreuz.
Naja. Aber wenn wir uns ehrlich sind: die fette Frau am Arbeitsamt – sie ist doch selbst mindestens so gelackmeiert, wie ich. Überhaupt ist das dort zum lachen, auf diesem tollen, hohen Amt – labern dort wichtige Herrschaften mit nichts als Gesocks in ihren Augen, wie schön und heil doch der Arbeitsmarkt sei und dass jeder etwas findet, der nur recht zupacken will und sich nicht davor scheut, auch mal den Buckel krumm zu machen – in Wahrheit sind sie doch die gleichen Penner, wie wir. Sitzen dort, tagein, tagaus, in ihren dämlichen Aktenbergen und stehen doch selbst immer schon mit einem Bein in der Kündigung, quasi mit einer Arschbacke schon auf dem niedrigen, harten Büßer-Stuhl, in den sie dich rein buxieren, sobald du ihr leeres, dunkles Büro betrittst – rasch, verzweifelt noch irgendeinen dieser Penner in einen Computerkurs stecken, damit er in der Statistik nicht mehr aufscheint; eben noch einen anderen Penner zum Bau stecken, zu all den anderen hoffnungslosen Pennern dort, einem dritten Penner noch geschwind die Kohle gestrichen – alles gut, alles schön, so putzt sie sich zufrieden und selbstgefällig die fetten Hände ab und ist doch selbst schon der Penner von morgen, da wird ihr der ganze Verrat nichts nützen …
Tja. Penner … Penner, wohin man schaut: Penner auf der Bank, Penner, die man wählen kann. Penner, die in hübschen Büros hübsche Dinge entwerfen. Alles Penner.
Aber was soll’s.
Naja.
Jetzt kennen Sie meine Geschichte also auch.
Wie gesagt: Ich kann nicht klagen. Ich meine, ich bin ja nicht so alt geworden, ohne nicht das eine oder andere über das Leben gelernt zu haben, nicht wahr? Wo Licht ist, ist auch Schatten, wie man so schön sagt. That’s Life. Und so trifft man eben nette Leute und auch miese Leute – wie diesen Russki-Boris und diese fette Frau und überhaupt.
Gestern gehe ich hoch zum Bahnhof, weil es dort eine Apotheke gibt, bei der ich das Herzmedikament für meine Muttschi holen kann – und weil es dort eine schnuckelige Apothekerin gibt, die manchmal mit mir flirtet, wenn nicht viel Betrieb ist … Nun, ehrlich gesagt, bin ich mir eigentlich nicht so sicher, ob sie mit mir flirtet oder einfach nur höflich ist, aber was kümmert mich das schon? Meistens habe ich mir eine gute Schicht Rasierwasser aufgelegt, wenn ich mittwochs Muttschis Zeug bei ihr hole, was soll dann schon schiefgehen? Ich habe herausgefunden, dass sie mittwochs so gut wie immer da ist; donnerstags ist sie nie da, das weiß ich, weil ich einmal eine Kollegin belauscht habe, wie sie mit einer Dritten über mein Mäuschen spricht. Daher weiß ich auch, dass sie einen Sohn hat, der noch relativ klein ist – alleinerziehende Weiber mit kleinen Kindern nehmen alles, glauben Sie mir das, deswegen rechne ich mir ganz gute Chancen bei ihr aus – bleibt nur zu hoffen, dass sie auch wirklich alleinerziehend ist –, aber davon wollte ich eigentlich gar nicht erzählen. Am Weg zum Bahnhof nämlich komme ich wieder an dieser Lärmschutzwand vorbei, die den Bahndamm dahinter von der vierspurigen Straße des hässlichen Bahnhofgürtels trennt, dort, wo ein Großmarkt für Tierfutter liegt und ein Schrottplatz mit angeschlossener Spedition oder was das ist. Tritscher – kennen Sie vielleicht; ich glaube, der ist mit dem Getränkemarkt verwandt, den es früher auch noch dort gab, aber egal. Jedenfalls komme ich an der Lärmschutzwand mit dem Arbeiterstrich davor vorbei und sehe dort diese ganzen erbärmlichen Gestalten, wie sie in Jogginghosen und mit diesen dämlichen Fischerhüten, die auch Maler und Maurer manchmal tragen, dastehen und auf Kundschaft warten, die sie in irgendwelche Villen oben in den Bergen oder zu einer Wohnungsauflösung mitnimmt, wo gestern noch die Leiche eines alten Weibes gelegen hat, die da vier Wochen verwest ist. Sie rauchen alle Kette und haben ihre eigenen Werkzeugkästen mit. Früher hatten sie auch noch Schilder dabei, auf die sie in krakeligen, beinahe analphabetischen Buchstaben geschrieben hatten, was sie konnten und was sie alles machten und was die Stunde kostete – oder gleich der ganze Tag, der war meistens billiger.
Arme Schweine, denke ich mir und gehe an ihnen vorbei, mit den Gedanken schon bei der kleinen geilen Maus von der Apotheke – da trifft es mich plötzlich wie ein verdammter Schlag: Geht da nicht der verdammte Plunder Markus, den wir in der Handelsakademie damals immer bis aufs Blut traktiert haben, den armen Hund!
Natürlich: er ist es! Er ist älter geworden, grau um die Schläfen, ein wenig eingefallen und bucklig – aber er ist es ganz eindeutig!
Immer noch hat er diesen duckmäuslerischen Rundrücken, den seltsam aus der Hüfte wippenden Gang, als ob er dringend auf’s Klo müsste – er ist auch immer noch ein verdammt hübscher Kerl, die Züge wie gemeißelt, das Grübchen am Kinn, die kornblumenblauen Augen – es ist alles noch da! Nur die Aufmachung passt nicht zu ihm – deswegen dauert es auch so lange, bis sich mein Hirn irgendwie mit der Tatsache abzufinden scheint, dass das wirklich er ist.
Er trägt eine Uniform. Ein seltsam marineblaues Teil, hässlich und überhaupt nicht autorität; um seine schlanke Taille hängt aber ein sehr wichtig aussehender Gürtel, breit und vollgehangen mit wichtigen Geräten und Taschen und Zeug, als wäre er so ein Kerl aus einem Actionfilm – wie heißen die in Amerika? Diese Soldaten. Na, egal. Jedenfalls komme ich näher – er drückt sich gerade vor den Arbeitsstrichern ‘rum und macht sich an den Autos zu schaffen, die da zwischen ihnen und dem hässlichen, lauten Bahnhofsgürtel parken – und endlich erkenne ich seine Uniform und was er da treibt: der alte Plunder Markus ist Parksheriff geworden! Ja, gibt’s denn sowas? Gerade überprüft er den Parkzettel, der hinter der Scheibe von einem schönen, aufgemotzten Opel hängt. Er beugt sich müde über den Wagen, starrt unter seiner Kappe hervor, notiert sich etwas in ein klobiges Büchlein, macht dann ein Foto von dem Wagen – oder wahrscheinlich vom Parkschein; eben will er weitergehen, um den nächsten Wagen zu kontrollieren, wie ich annehme – doch da sieht er mich! Beinahe trifft ihn der Schlag!
Er zuckt zusammen, schlägt sich instinktiv die Kappe tiefer ins Gesicht, macht einen Haken nach links, dann doch einen nach rechts – es wirkt bizarr, besorgniserregend – und gleichzeitig irgendwie komisch. Wie ein Kaninchen, das einen Parkzettel mit einer zusammengerollten Schlange verwechselt hat, hüpft er panisch davon. So schnell ist er den Gehsteig neben dem Arbeiterstrich hinuntergeschossen, dass ich kaum mit dem Schauen hinterherkomme. Mit stechenden Schritten nimmt er die Ampel, wo der alte Schrottplatz anfängt – sie ist schon lang auf rot.
Jemand hupt, ein anderer schreit Arschloch und wedelt die Faust.
Dem alten Plunder Markus ist das alles egal … Er muss nur weg. Weg von mir.
Und dann ist er auch schon verschwunden – irgendwo, hinter einem Zaun; vielleicht versteckt er sich bis zum Ende seiner Schicht auf dieser Schotterwiese, wo jeden Tag immer weniger LKW Schrott und Altmetall aus der ganzen Stadt zum alten Tritscher führen – falls der den Schrottplatz überhaupt noch betreibt, wer weiß – immerhin war der damals, als ich ihn mal in der Zeitung gesehen habe, schon weit über achtzig oder so. Aber egal.
Den Plunder Markus jedenfalls sehe ich an diesem Tag nicht wieder. Er ist verschwunden. Ich bin ganz baff. Die Arbeitsstricher sehen mich ganz betröppelt unter ihren Fischerhüten an, gerade, dass sie mich nicht fragen, ob alles okay ist, rauchen weiter Kette und schauen drein, als wären sie schon lange tot.
So spaziere ich den Gürtel zum Bahnhof hoch, freue mich aber nicht mehr so recht auf meine kleine Apothekerinnen-Maus. Etwas bedrückt mich, ich kann es selber nicht genau bestimmen. Meine Gedanken kreisen weiterhin um den Plunder Markus … Dieser Markus. Meine Güte, was war das für ein vielversprechender, kluger junger Kerl. Gutaussehend. Gutes Haus, guter Vater, gute Bildung … Was der wohl von mir denkt? Was der wohl glaubt, wie mein Leben seither verlaufen ist? Handelsakademie – immerhin – da darf man sich so einiges erwarten. Immerhin stand uns damals die ganze Welt offen, mein Gott, es ist schon so lange her. Ja, wir waren ja schon wirklich wer.
Liebe Maria, Mutter Gottes! Wie er sich erschrocken hat, mich zu sehen! Die pure Scham in seinen Zügen, das Verstohlene, Ertappte, die Art, wie er die Kappe ins Gesicht gezogen, sich weggedreht, die Flucht ergriffen hat; diese überhastete Flucht – elend. Ich bekomme das alles gar nicht mehr aus dem Kopf – regelrecht gefürchtet hat er sich vor mir. Was muss nur vorgegangen sein in diesem Plunder Markus? Mein Gott, der Plunder Markus, trifft man den hier, nach all den Jahren – schon unglaublich eigentlich.
So grübele ich lange; schüttele den Kopf vor mich hin, wie so ein alter Sonderling – früher gab’s hier einen, so einen alten Zausel mit abstehender weißer Mähne, den Dirigenten haben den alle genannt, weil er immer wilden Blickes die Straße runter gegangen ist, geflucht und und wild vor sich hin gestikuliert hat – wer weiß, wen der getroffen hat, auf der Straße, nach all den Jahren …
Und ich wundere mich schon sehr … Über die Welt, über diesen Plunder Markus – und vor allem über mich. Weil mich das so mitnimmt und ich nicht weiß, warum.
Und weil ich mir plötzlich wünsche, dass ich diesen Plunder Markus noch einmal sehen könnte … Nur noch ein letztes Mal. Das wäre schön. Das wäre gut. Irgendwie … wichtig.
Ich nehme mir vor, jetzt auch Dienstags zur Apotheke raufzugehen, da ist mein Mädchen nämlich auch da, zumindest so weit ich weiß; ihre Kollegin hat es zumindest mal erwähnt, glaube ich. Vielleicht treffe ich ihn dann ja wieder, den Plunder Markus – wenn er nicht gerade jetzt, in dem Moment schon irgendwo in der Hauptzentrale der hartgesottenen Parksheriffs steht, irgendwo in der Innenstadt, und irgendeinen Parksheriff-Oberindianer um seine Versetzung anbettelt – keine Ahnung, wohin, nach Südafrika vielleicht.
Ich hoffe, er macht das nicht. Ich würde ihn wirklich gerne wiedersehen.
Nein, ich muss ihn wiedersehen …
Dann würde ich zu ihm hingehen und sagen: “Hallo, Markus, lange nicht gesehen”, oder so würde ich sagen – na, sagen eben, was man eben so sagt – “Was treibst du? Wie ist es dir ergangen? Scheiße, wie lange ist das her? Komm, gehen wir auf ein Bier …” – Na, all das eben, Sie wissen schon … Vor allem aber würde ich eines sagen: “Gut gemacht”, würd ich sagen, bevor er wieder versucht, vor mir wegzurennen. “Beruhig dich. Ja, beruhig dich, mein Alter. Schau her, ich bin doch nur ein Penner geworden, schau her! Du hast dich vor keinem zu schämen, mein Freund. Nein, Du nicht … tu das nicht!” Das würd ich sagen. “So wollen sie uns nämlich haben.” Das würd ich sagen. “Diese elenden Schweine.”
Und dann würden wir auf ein Bier gehen – oder auch nicht. Oder vielleicht auch auf zehn – oder auch nicht. Wir würden eben tun, worauf auch immer wir gerade Lust haben …
Denn das tun wir. Das ist das Schöne daran, wenn man frei ist – wirklich frei.

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