Der letzte Termin nach den gefühlt tausenden, die eine Beerdigung so mit sich bringt, ist meistens der beim Notar.
Es ist Montag.
Im Vorzimmer empfängt mich eine attraktive junge Frau in grauem Blazer, mit Brille und karmesinrotem Pferdeschwanz.
„Herr Doktor ist heute leider unabkömmlich”, sagt sie, “aber das können wir auch zu zweit klären, nicht wahr? Die Verhältnisse sind ja recht einfach.“ Sie lächelt ermutigend und nickt dazu. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll; ob sie es ernst meint oder nur gut. Ich schwitze in meinen viel zu engen Anzug, zappele mit den Schultern.
Ein Gedanke von Wasser drängt sich mir auf. Wasser – vielleicht Regen; vielleicht von einem Fluss … Meer.
Wir sitzen in einem kleinen Büro, das zu neunzig Prozent aus Holz, Holzimitat, Holzfunier, Holzspanplatten, Holzeinbaukästen und Holzböden zu bestehen scheint – die restlichen zehn Prozent sind Staub.
Die junge Frau geht summend Papiere durch, hakt Dinge auf ihrer mentalen Checkliste ab – dazwischen betreiben wir Konversation. Das heißt: sie betreibt Konversation. Ich gebe ihr Antworten – ich bin schlecht in solchen Dingen; schlecht in Smalltalk, schlecht in Menschen.
Ganz allgemein bin ich in den allermeisten Dingen des Lebens schlecht. Ich bin in nichts wirklich gut; habe mich nie auf etwas festgelegt – das einzige, was ich mir halbwegs zugute halte, ist eine halbwegs ausgeprägte Fantasie … Leider kommt auch die, wie alles, mit einem bestimmten Preis: nämlich der Angst – Angst vor Krankheit, Angst vor Unfällen und horrenden Szenarien, Angst vor existenzbedrohenden Ereignissen und tausend anderen furchtbaren Dingen, die vielleicht – ja vielleicht – nur allzu leicht eintreten könnten. Auch die Angst davor, als Idiot oder der Versager, der ich nunmal bin, erkannt zu werden, gehört dazu.
“Jetzt macht sich der Sommer schon langsam bemerkbar, gell? Haben Sie schon Pläne?” Das sind die Dinge, nach denen die junge Frau hinter der Brille mich fragt.
Diese Angst von mir: sie ist eine lähmende.
“Ich werde einem Fluss tausendfünfhundert Kilometer weit zu Fuß folgen, wie ein Idiot”, könnte ich sagen – tue es aber nicht. Ihr Lächeln nimmt mir die Waffen, die ich niemals hatte. “N-nein. Nichts wirklich”, sage ich stattdessen.
Diese Angst ist eine lähmende. Sie summt wieder – und im letzten Moment fällt mir ein: “Und Sie?”
“Ich hab’ nur langweilige Hobbies”, sagt sie und lacht. Ich glaube, sie ist verlegen. Vielleicht tut sie auch nur so. “Wahrscheinlich lesen und ein paar Seifen machen.”
“Seifen machen? Sieh einer an.”
Sie trommelt mit ihrem Füller auf dem Papier herum, das vermutlich das alles umfasst, woraus meine Mutter jetzt noch besteht: Zahlen und ein bisschen Geld – Erinnerungen stehen da keine.
Kurz überlege ich, ob ich sie nach ihrer Nummer fragen soll; ob ich einfach frage, ganz salopp, so als ob nichts wäre: “Gehen wir einen Kaffee trinken? Oder ein Bier?” Was kann schon passieren?
“Dass sie dich vollkotzt, zum Beispiel”, sagt eine leise, penetrante Stimme in meinem Kopf, “oder dass sie denkt, du wärst ein mieses Arschloch, über dem Testament deiner Mutter hier an sowas zu denken.”
Himmelherrgott. Meinst du wirklich …?
“Ja klar. Pietäts-Preis gewinnst du so keinen, Compadre.”
Wahrscheinlich hast du Recht. Es ist riskant – und für Risiken habe ich nicht das nötige Gesicht …
Tatsächlich sehe ich – im besten Fall – durchschnittlich aus. Ich bin mittelgroß, mitteldick, mittelblond … nicht einmal zu dem, was man interessant hässlich nennt, hat es gereicht. Ich bin auch nicht sportlich, gefährlich, bullig, drahtig, sehnig – irgendetwas!
Nein, ich entspreche vollkommen der Norm.
Daran ändert auch der gebrauchte Anzug nichts, den ich trage – den vermutlich ein Toter schon getragen hat; ich habe ihn vom Armenmarkt, in dem ich manchmal arbeite …
“So”, sagt sie schlicht und lächelt warm bis über beide Ohren und sogar auch mit den Augen: “Wir wären soweit. Der letzte Schritt …” Sie klingt sehr feierlich – und wie schon tausendmal erprobt.
Sie schiebt mir einen Stoß Papiere über den Tisch, daraus ragen eine kunstvolle Büroklammer und drei bunte Fähnchen. Auf der ersten Seite steht fettgedruckt eine Aufzählung, darunter eine Summe in Zahlen und in Worten – es ist eine erkleckliche Summe, eine, die mir eine gute Zeitlang zum Leben reichen würde.
Dann zeigt sie nach den Fähnchen und gibt mir ihren Füller. Es ist alles ganz leicht – wie ein großer, leerer Umzugskarton, nachdem man sehr lange etwas sehr Schweres getragen hat …
Ich unterschreibe; dreimal; bei grün, bei blau, bei gelb. Der Nagel an ihrem Zeigefinger daneben ist karmesinrot, so wie ihr Haar. Sie sieht ein wenig aus wie du – und wie immer rede ich mir schnell ein, dass ich das nur so sehen will. Es riecht nach Kokosfett, nach Vanille und nach Rosen – und dann ist auch schon wieder alles fort …
“Das wär’s”, sagt sie. Es klingt so heiter.
“Ja … Das wär’s”, sage ich. Es klingt blass; so schmallippig, wie ich nunmal bin.
Als ich an diesem Nachmittag wieder in meine leere Wohnung komme, begreife ich schlagartig, dass es hier jetzt endgültig nichts mehr für mich zu tun gibt: Keine Mutter, die gepflegt werden müsste; kein Job, der mich bei der Stange halten soll – keine Liebe, kein Sinn; keine Zukunft, keine Hoffnung; auch geschrieben habe ich seit Monaten nichts.
Nach zehn Minuten in der engen, dunklen Küche, die nach Jahren noch den Geistern einer schönen, längst vergangenen Zeit gehört, wird sie mir zu eng. Alles hier ist völlig fremd – die Bilder an den Wänden, die Möbel, das Geschirr in den Schränken. Ich habe alles hier selber gekauft, zusammengebaut, herein geschleppt, ausgesucht, repariert, eine Million mal geputzt – und doch gehören sie einem völlig Fremden. Ich gehöre nicht hierher. Ich gehöre nirgends hin.
Das ist nicht mein Leben.
Ich bin woanders. Ich bin eingesperrt. Isoliert. Ersticke. Keiner hört mich.
Ich muss hier weg. Ich suche nach dem Fluss.
Die Straße runter, keine fünf Minuten von meiner Haustür entfernt, treffen wir uns; stehlen wir uns in die Dämmerung, wie zwei Liebende, zwei Verschwörer; Aufständische in einer drückend gewordenen Stadt …
Es ist mein Fluss.

Ersticke
Der letzte Termin nach den gefühlt tausenden, die eine Beerdigung so mit sich bringt, ist meistens der beim Notar. Es ist Montag. Ich trage den Anzug eines Toten …
4–6 Minuten
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