Bruder Paulus erwacht aus einem unruhigen Schlaf. Das erste, das ihm sein verschleierter Blick zeigt, ist das gleiche wie in den zwanzig Jahren zuvor: der schlecht ausgemalte Plafond seiner Zelle, der gelbliche Fleck, der da oben labbrig hängt.
Bruder Paulus zwinkert. Er fühlt Nässe auf seiner Wange, auf dem Kissen darunter. Letzthin sabbert er im Schlaf und er hängt jetzt kurz dem Gedanken nach, was das wohl zu bedeuten hat. Er ist ein wenig hypochondrisch veranlagt; ein ausgewachsener Pessimist, das muss er sich jetzt einmal mehr eingestehen – entfernt, nicht wirklich bewusst; so wie man sich eben Dinge eingesteht, in diesen seltsam klaren Augenblicken zwischen dem Schlafen und dem Wachen …
Nicht nur das – auch das schale Licht, das vom Zedern umringten Innenhof durch das vergitterte Fenster in seine Behausung fällt, verrät ihm, dass die Nacht für ihn vorüber ist – wie immer viel zu schnell; wie seit einigen Monaten merklich schmerzhafter. Hat ihn das Alter endlich eingeholt? Wieder wälzt er trübe Gedanken, Vorahnungen, Sorgen von Krankheit und Tod. Gott, denkt er, hilf. Hilf, bei allem, was dich so wunderbar und heilig macht.
Er muss erst gar nicht auf den Wecker sehen, um zu wissen, dass er gleich aufstehen, sich waschen und die Morgenandacht besuchen muss.
Schöne Scheisse.
Er schließt die Augen. Noch hat er keinen Muskel bewegt. Es ist ganz so, als schliefe er noch, als läge er im Koma, vollkommen entspannt, so als wäre der Körper, in dem der Geist wohnt, der all diese Gedanken formuliert, einfach nicht da. Es ist mucksmäuschenstill, es riecht nach nichts. Nur die Kammer, der schlecht ausgemalte Plafond mit seinem schmierigen gelben Fleck, das Morgenlicht und der Geist des Bruder Paulus.
Als er die Augen wieder aufschlägt, wandert sein Blick unwillkürlich von der Decke hinab, immer weiter, bis es nicht mehr weiter geht, so weit, dass er schemenhaft seine eigenen Backen im Sichtfeld hat. Er hebt leicht den kahlen Kopf vom Polster und erzeugt so das erste Geräusch des neuen Tages, ein feines Rascheln von Gänsefedern und Stoff. Er blickt an sich hinab, an die Wand, die direkt an den Fuß seines Bettes anschließt, die ebenso kahl ist wie er und nichts als ein Kruzifix mit Christus zeigt. Davor: eine mächtige Beule in der Bettdecke. Ihr Scheitel ist kerzengerade und liegt in dieser Perspektive exakt in der vertikalen Verlängerung des gemarteten Leibs des Heilands.
Bruder Paulus lässt den kahlen Kopf wieder auf den Polster sinken. Sein Blick wandert zurück zum schlecht ausgemalten Plafond mit dem gelblichen Fleck, der, wie ihm jetzt bewusst wird, nach getrocknetem Sperma aussieht. Dort gibt es noch andere Stellen – etliche Stellen –, die hässlich sind; an denen die Wand abgeblättert ist, dunkel, wellig, feucht. Vor Jahren hat jemand eine Malerrolle in einen Farbeimer getunkt, sie wild und unmotiviert über dieses Sieb, das man zum Abstreifen benutzt, gehobelt und ist mit viel zu viel Farbe an der Rolle über den Plafond gegangen. So ist er jetzt übersät mit diesen verdammten Absplitterungen, in denen man, wie in Wolken, lustige Formen entdecken kann … darin die Wellen; darin der gelbe Spermafleck.
Darunter die Erektion.
Himmelherrgott …
Bruder Paulus sucht nach seiner Lieblingsform in den Plafondwolken. Sie sieht aus wie Senta Berger – ja, kaum zu glauben, das ist es, was Bruder Paulus sich jedes Mal denkt – kaum zu glauben, aber wahr: wie Senta Berger; er weiß selbst nicht so recht, warum; aber so ist es eben. Er lächelt verschmitzt und kaum merklich und denkt an Senta Berger, die große österreichische Schauspielerin, die rothaarige Göttin seiner Jugend; an die Senta Berger vor zwanzig Jahren, als Bruder Paulus sie zum letzten Mal im Fernsehen gesehen hat. Sie war in eine Talkshow eingeladen, was damals noch nicht so hieß, und hatte darüber gesprochen, dass sie sich nicht vor den Wechseljahren fürchtete. Bruder Paulus, der damals noch Paul geheißen hatte, war vor dem Fernseher gesessen, hatte seinen Schwanz rausgeholt und sich so richtig schön einen gewichst, während die schöne, reife Senta Berger über Hormonschwankungen sprach. Noch am selben Abend war er ins Kloster gegangen.
Auch jetzt, als der Senta Berger-Fleck über ihm sich so elegant von dem gelben Spermafleck zu entfernen scheint, so wie sich wohl auch die echte Senta Berger elegant und vornehm, wie sie war, von Sperma fernhalten würde, spielte Bruder Paulus an sich herum. Immer noch ist er in dieser Unkörperlichkeit verfangen; genießt seine Halbweltlichkeit zwischen Bett und Licht, das schräg und lästig von draußen in seine winzige, noch ihm allein gehörige Welt herein kriecht. Er spürt die Wärme und die verhaltene, doch leicht nachgiebige Wärme seines Glieds, schiebt die Vorhaut sanft rollend vor und zurück, biegt den Zeigefinger in seinem Griff genau so durch, dass er das Bändchen an seiner Eichel, hinter dem der Heiland hängt, gut stimuliert …
Er liegt oft nur so da und blickt hinauf, auf diesen Fleck am schlecht ausgemalten Plafond, der ein bisschen aussieht wie Senta Berger vor zwanzig Jahren, und er ist froh, denn inzwischen, so sagt er sich, wäre sie bestimmt schon alt und runzelig geworden. Hier aber, hier bei mir, denkt er sich, in meinem Fleck am Plafond, da würde sie auf ewig eine Heilige, eine unbefleckte Maria, eine Dame bleiben, so wie mein Jesus am Kreuz ewig dort der Jesus bliebe. Niemand – und so zeigt sich die Gnade des Herren, des Allmächtigen – hat Bruder Paulus in den letzten zwanzig Jahren verraten, dass Senta Berger immer noch eine sehr attraktive Frau ist, für ihr Alter. Und so kann er auch weiterhin in seinen Gedanken, seiner Dankbarkeit schwelgen; in seiner Wonne, seinem Schweben.
Er erfreut sich daran; an der Ruhe und an seiner morgendlichen Erektion. Er spielte mit sich, lässt die Fantasie ein wenig schweifen; denkt auch an andere rothaarige, die dieser andere Mensch – Paul – einst gekannt hat …
Doch irgendetwas stimmt nicht.
Der Fleck an der oberen Decke – die Beule in der anderen – der Heiland dahinter – dieses Licht, das so dreckig und elendig vom Baumumstandenen Innenhof hereinkriecht, wie irgend so ein Stück lepröser Scheiße, das immer und immer wieder, jeden Tag, irgendetwas von ihm will … er denkt an den Speichelfleck auf seiner Wange, spürt der Nässe nach, die er sich vor Minuten – oder sind es schon Stunden – dort weggewischt hat; hängt diesem knirschenden, harten Kissen nach, das seinen kahl werdenden Hinterkopf umsteht und den wirren, sorgenvollen Gedanken von Krankheit und Älterwerden und …
Ach, verdammt, denkt er und presst die Augen zusammen und bekreuzigt sich im Geiste – ohne, es wirklich zu tun – und formt mit den Lippen eine stumme Entschuldigung.
Weiter wichst er sich unterdessen den wieder erlaschenden Schwanz, spürt, wie die Manneskraft aus ihm weicht, der Lebenswille und das Aufbäumungswürdige; vielleicht, das letzte Stückchen, das er sich von dem Ding erhalten hat, das früher sein Rückgrat gewesen sein mag …
Oder hatte auch schon dieser Paul keines?
Er weiß es nicht mehr.
Was weiß er überhaupt noch; was kennt er denn noch, außer diesen Fleck, der wie Senta Berger aussieht, wie sie vor zwanzig Jahren ausgesehen hat; und, verdammte Scheiße, warum weiß er eigentlich nicht, warum sie heute aussieht?
Ja – warum?
Das fragt er sich, während sein Blick immer mehr zu dem gelblichen Grind an der Decke hingezogen wird, auf den sich nun mehr und mehr sein Hass konzentriert; ja beinahe sich aus diesem Fleck heraus zu ergießen scheint …
Normalerweise erfüllt ihn all das – die Decke, seine Zelle, das Ruhen in seinem Bett – mit tiefem Frieden. Aber nicht heute – nicht an diesem Morgen. Irgendetwas ist anders.
Er will denken – will beten, will sich fragen – all das nur für den Bruchteil einer Sekunde; dann stellt er verblüfft fest, dass “wollen” schlicht das falsche Wort ist …
Nein, er will nicht.
Diese Erkenntnis trifft ihn wie ein Schlag.
ER WILL NICHT.
Er hat lange genug gewollt. Er hat lange genug das Maul gehalten. Lange genug diese Flecken akzeptiert und zu mögen gelernt, lange genug hingenommen, dass er seit zwanzig Jahren nichts mehr weiß, woran die Mauern hinter diesem baumumstandenen Innenhof keine Schuld tragen, wie er auch weiß.
Er ärgert sich – über dieses Kissen, über die Nässe, über seinen verdammten Schwanz, über den Kerl, der verdammt nochmal zu blöde war, diese Decke vernünftig auszumalen und über Senta Berger, die seit zwanzig Jahren immer gleich aussieht, und über seinen Schwanz, der nicht mal für dreißig Sekunden steif bleiben will und über sich selbst, weil er sich im Angesichte des Heilands nicht vorzustellen getraut, wie diese zwanzig Jahre vergangene Senta Berger aus dem Fleck heraus steigt und ihm diese verdammte, halblasche Nudel lutscht – dann würde sie es auch mal länger aushalten, als dreißig Sekunden, verdammt …
Er WILL sich nichts mehr fragen; nein, er WILL sich auch nicht mehr rechtfertigen, er WILL einfach nur wütend sein. Ist das nicht sein verdammtes Recht?
Bruder Paulus hat die Schnauze voll. Er springt aus dem Bett und stürmt, ohne sich anzuziehen, noch in seinem weißen Nachthemd, das plötzlich doch wieder eine heftige Beule auf Hüfthöhe aufweist, zur Zelle seines Franziskaner-Vorgesetzten, Bruder Brixter, und sagt ihm, dem verblüfften, der um diese Zeit schon drei Stunden wach und nichts als das blühende Leben und die Ruhe und der Frieden selbst ist und den Paul noch nie hatte leiden können, dass er die Schnauze voll habe.
“Ich hab’ die Schnauze voll, Brixer, du Arschloch”, sagt er, “Und noch eins: ich hab dich nie leiden können, du Arschloch.” Damit steckt er ihm den Zeigefinger in die immer noch so ruhige, vollbärtige Visage und stapft zurück in seine verdammte winzige Zelle mit dem verdammten dreckigen Plafond, und zieht sich um.
Wieder Paul, wieder in den Klamotten die er vor zwanzig Jahren abgelegt hat – den Karottenhosen, die ihm jetzt um vier Nummern zu klein sind, sodass der Reißverschluss wie ein gähnendes aufgeplatztes Loch mit goldenen Zähnen aus seiner Körpermitte röhrt, und mit dem spannenden Take That-Shirt über dem mittelalterlichen Bauchansatz –, verlässt er das Kloster, als eine schale Morgensonne lustlos an Kraft gewinnt. Er läuft die Straße hinunter zum nächsten Kiosk, wo er sich eine “Welt der Frau” mit Senta Berger auf dem Titelbild kauft – er kann seinen Augen nicht trauen. Sie ist immer noch wunderschön! Gealtert – wie guter Wein, denkt er sich, aber schöner, geheimnisvoller, reifer denn je …
Noch an Ort und Stelle holt er seinen prallen Schwanz aus der wursthautartig gespannten Karottenhose, und onaniert so heftig, dass er sich beinahe die Schulter auskugelt. Noch bevor der ägyptische Kioskbetreiber bemerkt, dass der seltsame alte Mann mit einem antiken Zwanzig-Schilling-Schein bezahlt hat, kommt es Horst, wobei er schreit wie ein brünstiger Elch. Der Ägypter sieht ihn angewidert an. Gerade will er den Alten angehen, als der schreit. Er hört garnicht auf; es kommt ihm und kommt ihm und … es ist unheimlich. Marik, der Trafikant, hat ein bisschen Angst. Soll er die Polizei rufen? Die schöne Zeitschrift, denkt er sich – wer soll die jetzt noch kaufen? Und was soll er mit diesem alten Geld. Die rothaarige alte Frau lacht ihm vom Cover herunter aus und der Alte schreit und schreit. Strahl um Strahl weißer Schläuche feuert es aus seinem Glied, auf Bäume in der Nähe, auf den Gehsteig, auf eine alte Frau, die unglücklicherweise da vorübergeht, auf den Dackel, den sie an der Leine führt, auf einen Radfahrer mit 6000-Euro-Tour de France-Montur, auf ein paar Schulkinder, die lachen und mit dem Finger zeigen … es hört nicht auf. Er schreit.
“Allah!” ruft Marik und springt dem Alten zur Seite, der auch ihn anspritzt. Vor Ekel brüllt er, reißt die Arme hoch, schwankt zurück, donnert mit dem Ellenbogen die Angel- und die Sport- und die Nordic Walking-Zeitschriften aus ihren Ständern, dass es nur so regnet. Ob der Alte sich in Leiden oder in Extase windet, ob in Schmerzen oder Befreiung, lässt sich indes unmöglich sagen.
Kinder schreien. Die Alte Frau redet irgendetwas vonwegen Vergasen und Entartung und so Zeug – Marik spürt Panik in sich aufsteigen, wo klebrige Nässe in seinem Bart hängt, so wie sie heute Morgen noch im Bart von Bruder Paulus gehangen war – aber das kann er natürlich nicht wissen.
Er, der jetzt wieder Paul heißt, schreit und wankt und spritzt.
Und plötzlich, als keine Steigerung mehr möglich scheint, explodiert er wie eine selbstgemachte Rohrbombe aus Blut und Fleisch.
Es knallt. Es flatscht ganz fürchterlich feucht, als ob eine Melone aus dem zehnten Stock geflogen wäre und auf dem harten, glühenden Asphalt zerschellt – so sieht es jetzt auch aus. Paul platzt aus seiner Mitte heraus, sein Rumpf trennt sich von den Beinen, dort, wo sie aufeinandertreffen; die Beine knicken weg, der Rest beugt sich zu Seite, ein Riss zuerst, dann ein Knall …
Oh, dieser Knall.
Marik schließt die Augen, er hört sich selber schreien. Die Hände nach den Ohren hochzureißen, fällt ihm erst viel zu spät ein und so platzt ihm beinahe das Trommelfell.
Die alte Frau und ihr Dackel werden gegen den vollgespritzten Baum geschleudert, die lachenden Kinder durch die Auslagenscheiben eines nahen Geschäfts. Autoscheiben platzen, Alarmanlagen plärren los.
Der Knall ist noch am anderen Ende der Stadt zu hören. Marik schreit wieder, kriecht unter seinen Stand. Gebrüll. Andere schreien ebenso. Alles rund um den Kiosk ist mit einem Mal voller Blut, Knochen und Eingeweide; Gedärme hängen von den Fitnesszeitschriften; eine Darmschlinge hat sich in den Speichen des 6000-Euro-Tour de France-Mannes verfangen, der jetzt plärrend stürzt; einen Purzelbaum über die Lenkstange schlägt und in einem weiten Feld von Innereien auf den glitschigen Asphalt schlägt.
Wo eben noch der wichsende alte Mann gestanden hat, liegt jetzt nur noch sein zuckender, immer noch ejakulierender Penis. Er ist steinhart – und wird es auch bleiben. Wie durch ein verdammtes Wunder. Wäre es eine gerechte Welt – dieser Schwanz würde als Reliquie in Rom, in Florenz, in Santiago de Compostela ausgestellt; als der ewig erigierte, endlos spritzende Dödel des heiligen Paulus von der Senta Berger-Erscheinung.
Doch so weit würde es nie kommen.
Die komplett eingesaute “Welt der Frau” mit Senta Berger am Titelbild würd man erst drei Wochen später finden, vierzig Kilometer vom Ort des bizarren Vorfalls entfernt, zerfetzt und krustig und immer noch klebrig.
Ein Franziskaner-Sondereinsatzkommando verwischt alle Spuren, die zum Kloster führen könnten, die Medien sprechen von einem Akt des Terrors, von einem “Orientalen”, der am Tatort aufgegriffen wurde (aha, man weiß ja, was das bedeutet!), die Polizei bittet, sich bis zum Ausgang der Ermittlungen zu gedulden, ein paar Celebrities sammeln Spenden für die Hinterbliebenen der Opfer, es gibt sogar ein U2-Konzert mit allem Drum und Dran – Senta Berger sitzt von da an wieder häufiger in Talkshows, die inzwischen auch bei uns Talkshows heißen …

Der Senta Berger-Fleck
Er blickt an sich hinab, an die Wand, die direkt an den Fuß seines Bettes anschließt und nichts als ein Kruzifix mit Christus zeigt. Davor: eine mächtige Beule in der Bettdecke. Ihr Scheitel ist kerzengerade und liegt in dieser Perspektive exakt in der vertikalen Verlängerung des gemarteten Leibs des Heilands …
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