Nur für wenige Sekunden berührten sich unsere Blicke; vereinten sich unsere Leben – in der Nacht, in der Kälte, durch die dichten Eiswölkchen, die vor uns stoben, die, kaum geboren, schon empor stiegen, gegen einen schiefergrauen Himmel, auf dem Sterne geschrieben standen, so klar, so deutlich und so rein, dass sie nur von einem berichten konnten: Frost.
Der kroch in unsere Glieder, in unsere Leiber, er labte und schmiegte sich an uns, wie das scheinbar zahmste Tier auf Erden und saugte uns doch aus, mit aller Kraft, hinterrücks und wie von unserer Einsamkeit beflügelt. Er hatte fast menschliches an sich; er atmete, zauderte und fürchtete, dass wir uns seiner doch noch erwehrten – beinahe schien er wie ein Kind.
„Vielleicht nicht heute“, flüsterte er in unsere rotglühenden Ohren, „Vielleicht nicht morgen, werde ich dich kriegen – aber irgendwann ganz bestimmt. Und kommen wirst du mich sehen.“
Und vielleicht war es auch nur der Frost – diese tödliche, allgegenwärtige Kälte –, die mir in diesen wenigen Sekunden, als ich dem Blick des Mannes begegnete, einen Schauer über den Rücken jagte. Ich hoffe es; ich möchte es glauben, denn diese Augen, nur diese harmlosen, weißlichen, trüben Augen, die ich sah, dürfen es nicht so weit treiben, dass ein erwachsener Mensch zur Nacht seinen Schlaf nicht mehr findet.
Und doch zittere ich, während ich dies schreibe. Ich starre auf meine kleinen, grauen Hände, die von Rissen übersät sind, bläulich an den Fingerkuppen und hart und schorfig an den Seiten; ich zittere in diesen morschen, dürren Knochen und zittere in den schwarzen Nägeln … Wenn nur diese weißlichen Leichenaugen von mir wichen – vielleicht fände ich dann endlich wieder Schlaf. Damit würde auch das Zittern von mir fallen – ja, ganz bestimmt – und die Gedanken; diese schwarzen, beängstigenden Wolken, die in den letzten Tagen immer mehr in meiner Stirn wie Eiter nisten … Ich … diese Augen …
Sie gehörten einem Mann von gewöhnlicher Erscheinung. Nichts Auffallendes oder gar Bedrohliches lag in ihm. Er stand da, wartete und rauchte, wie ich selber auch. Wir ließen die Massen, denen es vergönnt war, einer Tätigkeit nachgehen zu dürfen, an uns vorüberziehen, wie blickten in den klaren Himmel, gegen die grellen Lichter der vorbeifahrenden Mobile, nach den gelblichen Ziffernblätter der riesigen, öffentlichen Uhren über unseren Köpfen, nach diesem und jenem, nach allem und nichts; wir lauschten und fühlten, rauchten und schnauften – wir taten alles, um uns die elende Zeit des Nichtstuns im Schwarz und im Frost und im Neonschein zu vertreiben, nur eines taten wir nicht, nämlich einander Beachtung zu schenken.
Das war verboten, in jenen verschütteten Tagen; ein ungeschriebenes Gesetz des Lebens in der Stadt der Einsamkeit – hierzulande im Allgemeinen, in diesem schäbigen Viertel, dieser schäbigen Straße der Nutten und der Säufer, im Speziellen. Wir waren allein und isoliert, stumm und ignorant, so wie es das klügste und vor allem das sicherste war.
Der Dreck und die Scheiße wehte uns um die Knöchel; ein paar Freier holten sich Mädchen von den angekotzten Unterführungen, über die schon lange keine Hochbahnen mehr fuhren – wen sollten sie hier schon holen? Es roch nach Pisse und wieder nach Frost.
Wir warteten; harrten; ließen den Sand – das Graupeleis vielmehr –, mit dem unsere Lebensuhren gefüllt waren, gnädig und sehnend verrinnen.
Und doch: irgendwann, nach wer weiß wie vielen Minuten, die sich wie Stunden anfühlten, geschah es, mit der scheinbaren Präzision eines ersten Erfolges nach tausend gescheiterten Versuchen, dass wir uns direkt in die Augen sahen.
Oh, diese Augen … diese Augen …
Ich schauderte, als mein Herz, meine gesamte Brust sich zusammenzog; als Hitze und Furcht mir glühend in die Fresse stiegen – plötzlich! Hitze, so plötzlich, woher? –, ich ganz allein in den Abgrund dieser gähnenden Leere blicken musste. Ich dachte unwillkürlich an meine Mutter und meinte, ich würde mich jeden Moment bepissen – ich schwankte. Gleich wollte ich mich abwenden, fliehen, vor diesen beiden, trüben Schlünden von Augen, doch wie magisch, wie magnetisch zogen sie mich an – ein ganzes Leben verging in diesen Sekunden und ich wusste, als sie gelangweilt und doch so vielsagend von mir wichen, dass ein Brandmal meiner Seele nun auf ewig anhaften würde.
Warum? Ich weiß es nicht … genauso wenig, wie ich sagen könnte, was an diesem dreckigen, bleichen, entstellen Mann; an seinen Augen, seiner Gestik, seiner Mimik mir derartige Furcht in die Eingeweide rammte – was mich dazu trieb, dem Irrsinn, der fortan in mir keimte, in so rücksichtsloser Weise, nachzugeben …
Ich spürte Übelkeit. Fluchtreflex. Ein Zittern in den Beinen, als ob ich eines von den Mädchen wäre, an der Bahn – eines von den jungen, die noch Träume und Hoffnungen hatten, und noch Saft in der Fotze; eine von denen, die noch nicht kaputt gemacht geworden war – ausgewrungen, ausgekotzt, wie all die anderen alten Huren, die da standen und hofften, endlich eines Tages die erlösende Überdosis oder den letzten Fick mit dem Messer zu kassieren.
Ich zitterte – da schon – zitterte; wie ich jetzt zitterte; und ja, da war auch Lust … eine bizarre, eine kranke, eine schwärend-stinkende Lust.
Ich sah ihn an; verstohlen; heimlich; lugte über den klebrigen, steifen Rand meines hochgeschlagenen Kragens …
Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen; auch niemanden, der ihm auch nur im Entferntesten ähnlich sah – wie sollte das auch möglich sein? Nichts hatte ich jemals gesehen, dass auch nur die geringste Assoziation, den geringsten Vergleich mit ihm, hätte in mir wecken können.
Seine Stirn war flach und fliehend, das Haar darüber karg und dünn – in ungebändigten Fäden stand es ihm von einem Antlitz, an dem jedes Fleisch zu fehlen schien. Unter der fahlen, glatten Haut, so sah es aus, lagen die Knochen, ohne Blut, ohne Muskeln dazwischen; sein Mund war eine Linie, seine Wangen eine Flucht; die Augen lagen tief und dick umrandet in ihren Höhlen – Gott, ich wüsste nicht einmal zu sagen, wie alt er wohl gewesen sein mag oder ob er überhaupt in Menschenjahren, in unserer Zeit, zu bannen war … Doch eines weiß ich genau: Was ihm an Mimik fehlte, das machte er mit Gestik, mit dem Körper, mit dem Fleisch der Pranken wett. Denn als er in jener verhängnisvollen Nacht, nach Ewigkeiten des Wartens, plötzlich die Zigarette auf den Boden warf und, sie mit dem Fuß austretend, von Dannen ging, da offenbarte sich mir eine ganze Reihe von markanten Bewegungen – ich sehe sie noch vor mir, eine, so wie die andere; eingebrannt in meine Augen, meine Seele. Das habe ich auch den Polizisten mitgeteilt.
“Wie bei magischen Beschwörungen oder so, so hat er die Arme bewegt”, habe ich ihnen gesagt, “Ja, ich weiß, ich weiß, verdammte Scheiße, ich weiß, wie sich das anhört und was Sie jetzt denken, Mann. Ich denke es mir ja auch. Aber ich sage es Ihnen trotzdem. Und gegangen ist er, das sage ich Ihnen auch, wie ein verdammter Panther.” Das diktierte ich dem fetten Arschloch in seinen Block, während er mich kauend und mit einem stinkenden Zahnstocher im Winkel seines Maules, ansah.
„Er wandert alleine“, habe ich ihnen gesagt, „Wie er aussieht, das kann ich Ihnen schon sagen, aber es wird Ihnen nichts nützen – nichts nützen! Wie er geht, wie er seine Arme bewegt, seinen Kopf, das kann ich ihnen schildern, bis ins Detail – bis ins Detail!“
Sie haben den Kopf geschüttelt und den Finger auf dem Stück Papier; immer und immer wieder. Sie wollen Dinge von mir wissen, die ich ihnen nicht sagen kann – selbst, wenn ich es wollte – nicht kann! So ließen sie mich gehen; das fette Schwein mit dem Zahnstocher; sie überließen mich einfach mir selbst … und damit weiß Gott welchem Schicksal.
Gott – das sage ich so leicht. Als ob es dieses alte Arschloch geben könnte – in einer Welt, in der es auch diesen Kerl gibt. Nein.
Das hier war nicht zu verstehen. Es war nicht zu verkraften.
Die Bullenschweine wollten noch einiges mehr von mir wissen.
Warum ich das alles wisse – warum ich ihm gefolgt sei.
Ich klappte den Mund auf und zu, wie ein verdammter Idiot, ein Geistesschwacher. Ein Funkeln im Auge des Fetten mit dem Zahnstocher … Hab ich dich, das war es, was er dachte. “Hab ich dich, du grindiger Penner. Du Säufer. Du Hurenbock. Abschaum.” Ich sah es ganz genau.
Aber was sollte ich ihm schon sagen?
Gott, ich weiß es doch selber nicht!
Gott, bitte hilf mir! Ich wollte nicht so übel … Nein.
Hilf mir. Hilf mir, dass das Zittern vergeht und die Übelkeit und der Schlaf wieder …
Ihm.
Er …
Er warf die Zigarette in den Gulli, wo sie noch rauchte, wo sie noch glomm; im Frost, im Dunkel; in der Kotze und der Feuchte und der Nacht. Er machte seine Gesten; sprach mit irgendwem, den ich nicht sah; der vorüberhuschte; dann mit einem anderen Kerl, der einen Pelzmantel trug und eine Kleine am Arm, die nicht viel älter war, als Zwölf und völlig stoned und vermutlich bald nicht mehr am Leben sein würde – so richtig, mein ich, mit dem Kopf und nicjt nur mit dem kleinen, haarlosen Körper –, weil sie die ganzen Schwänze und seine Schläge dazwischen nicht mehr ertrug und die Nadeln im Arm …
Ich wartete und sah ihm zu.
Er ging, ließ mich allein, in meinem Elend – einfach so! Und auch wenn ich ihn von dem Augenblicke an, als wir uns in die Augen geblickt hatten, verachtete, so war er doch der einzige gewesen, der dieselbe Bürde der Einsamkeit tragen musste, wie ich selbst. Wir waren Kollegen, wir waren Genossen, wir waren Brüder – wenigstens für diese kurze Zeit, in diesem kleinen Schmerz, dessen Namen ich vergessen hatte.
Ich kannte ihn nicht und alles was uns verbunden hatte, war sein leichenhafter Blick in meinem. Und doch folgte ich ihm in jener Nacht; heimlich, unbemerkt – so dachte ich jedenfalls.
Ich musste wissen, womit, oder gar mit wem er mich betrog.
Die Polizisten glauben mir nicht. Ich kenne keinen Namen, keine Adresse, keinen Grund, der dem plausibel denkenden Geist genügt; ich kenne nur das Gefühl dieser Nacht: die Einsamkeit. die Lockung. Die Verbrüderung mit diesem … Es.
Es kann kein Mann gewesen sein. Oh Gott, ich flehe dich an: lass ihn keinen Mann gewesen sein …
Ich habe nur aus Einsamkeit gehandelt. Bitte, Gott – das musst du mir glauben.
Einsamkeit … kennst du dieses Gefühl? Das habe ich auch die Bullen gefragt … lächerlich, ich weiß.
Seit die sogenannte Wirtschaft – das Treiben irgendwelcher fremden Größen, in eleganten, grauen Anzügen, in eleganten, fernen Ländern – uns die Arbeitsplätze genommen hatte, mehr noch: das Leben und die Würde; und uns in ein Vegetieren zwischen Armut und Langeweile gezwungen hatte, kannte ich sie nur allzu gut.
„Zuerst fühlt man sich nutzlos, dann – deswegen – beschämt, und zuletzt – deswegen – einsam.“ Das habe ich nicht nur all meinen ehemaligen Freunden erzählt, sondern auch den Bullen, wie gesagt. Doch sie verstehen nicht. Es interessiert sie auch nicht. Alles, was sie interessiert, ist ihr beschriebenes Stück Papier und dieser Mann, dieses Es, dem ich folgte …
Gott, oh Gott …
Zumindest das stellte ich geschickt an.
Ich hielt genügend Abstand, ich nutzte Nischen und Ecken, ich behielt ihn, es, im Auge; meine Sinne schärften sich, ob der willkommenen Abwechslung; ja, es war ein richtiger Nervenkitzel, ein harmloses Spiel, wie mir schien … Meine Schritte waren leicht und federnd; selbst in enge, menschenleere Gassen und Gässchen, in denen der leichteste Tritt laut und hallend von den nackten, feuchten Ziegelwänden zurückgeworfen wird, folgte ich ihm unbemerkt … Sein Weg schien weit und verworren; oft quälte mich der Gedanke, dass er gar kein wahres Ziel vor Augen hätte, dass er einfach nur spazieren ging, wild drauf los – ich zitterte, denn was hätte ich dann schon über ihn erfahren? Doch langsam aber sicher gewann ich mehr und mehr den Eindruck, dass er seine Schritte einem festen Plan gemäß lenkte. Ich frohlockte und steigerte meine Bemühungen, mich ihm unbemerkt an die Fersen zu heften, umso mehr.
Immer vertrauter wurde mir das Objekt meiner Begierde, der leuchtende Nordstern auf dieser nächtlichen Odyssee … Ich erwähnte seine bemerkenswerten Gesten bereits, doch nun wurden mir auch seine restlichen Gepflogenheiten immer klarer: Wie er um Ecken bog, Straßen überquerte, Ampeln und Engstellen passierte, wann er sich umblickte, wann er hielt, wann er sein Tempo steigerte oder reduzierte … Ich studierte ihn und wurde im gleichen Maße immer faszinierter, als auch angeekelter von ihm – noch immer scheue ich mich, ja weigere ich mich, ihn als Mann zu sehen …
Bald war alles Pantherhafte an ihm verschwunden. Was zurückblieb, glich mehr einem Nager – oder einem Insekt.
Er pflegte, seine Augen auf ein bestimmtes Ziel zu fokussieren und erst dann, wie ein Raubtier, als er es für die Mühe wert hielt, seinen Kopf danach zu drehen. Er pflegte, seine Arme nicht zu pendeln, wenn er ging – fest, wie steifgefroren, starrten sie an seinen Seiten –, während die Schritte seiner schlaksigen Beine umso umständlicher, umso ausladender, ja beinahe grotesk großspurig, ausfielen. Er stampfte regelrecht, unter einem auffallend weit zurückgelehnten Oberkörper; es schien, als marschierte er in einer Militärparade, stramm, auf den Fersen durch die Welt, mit krampfhaft ausgestreckten, regungslosen Fingern, mit steifem Nacken, mit gereckter Brust … Wie konnte es nur sein, dass er mit dieser bizarren Körperhaltung niemandem auffiel, außer mir? Warum erntete er keinerlei Blicke; keinerlei Getuschel – nicht von den biedersten Weibern, die uns begegneten, noch von den gehässigsten Halbstarken, die sich an der Eckkneipe, auf ihren Maschinen lungernd, betranken; den Arschlöchern, Schlägern und Rowdies, die selbst mir, in meiner unauffälligen Erscheinung prüfende Blicke zuwarfen? Ich kannte diese Blicke – sie sagten: du Stück Scheiße bist nicht mal die Abreibung wert, die wir dir verpassen könnten; den Stahl nicht, der dich vom Blinddarm bis zu den Ohren aufschlitzen sollte, wenn es nach mir ginge; du Stück Scheiße, in dem ich den ganzen Hass auf diese Welt auf einem Meter siebzig vor mir sehe …
All das schien ihm völlig umbekannt; völlig einerlei. Er stampfte weiter vor sich hin; stampfte an ihnen vorbei, in seinem irren Stechschritt; in seiner geisteskranken Haltung; seinem irren Blick …
Ich fürchtete damals noch den Tod; heute kenne ich nur noch den Wahnsinn, der über mir hängt und mich zu verschlingen droht …
Ich folgte ihm weiter. Leckte mir die kalten Lippen und den weißen Hauch davor …
Der Frost war wie weggeblasen; das Blut war in Wallung und die Zeit in Schach …
Noch eine Ecke, noch eine stinkende Gasse …
All diese Gedanken fielen mit einem Schlage von mir ab, als er endlich das Ziel seiner Wanderung erreicht zu haben schien.
Er betrat ein Gebäude; dunkel, unauffällig und schäbig. Beinahe hätte ich ihn dabei verloren, denn allzu plötzlich hatte er seine Schritte verlangsamt, seinen Kopf gewandt – steif und wie einstudiert – und war, einen Arm schnurgerade hervor gereckt, um die unverschlossene Haustüre aufzudrücken, durch eben jene verschwunden.
Mein Herz stockte.
Ich hielt den Atem an.
Er war verschwunden – fort. War aufgegangen, in jenem schwarzen Haus …
Und ich schwöre bei Gott: im Halbdunkel des Torbogens, einen Herzschlag bevor er darin aufging, sah ich seine Augen; funkeln, starren. Er hatte mich gesehen. Und das böse Grinsen auf seiner Fratze galt ganz allein mir.
Er wusste alles.
Hatte von vornherein alles gewusst.

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