Ich stand in der Diele, rauchte und dachte nach.
Ich wurde einundachtzig in dieser Stadt geboren. Das war fünfunddreißig Jahre her. Und wenn alles gut ginge, würde ich in fünfunddreißig Jahren in dieser Stadt sterben … Halbzeit.
„Nimm du die Katzen“, sagte ich zu Hettie. “Nimm du sie, was soll ich mit ihnen?”
“Verdammt, das sieht dir ähnlich”, sagte sie.
Worum es wirklich ging, das verstand sie natürlich wieder nicht. Ich sagte es ihr auch nicht. Also sagte sie wieder “Verdammt, das sieht dir ähnlich” und hängte auf.
Eine halbe Stunde später stand sie im Wohnzimmer und packte Aro und Isa in eine nagelneue rote Transportbox, die sie mitgebracht hatte.
Wir sprachen kaum. Es gab nichts mehr zu sagen. Ich stand am Fenster, sah hinaus und rauchte. Ich konnte jetzt rauchen, so viel ich wollte.
Hinter dem Vorhang und dem Fenster und dem Rasen sah ich einen Wagen parken, den ich nicht kannte. Es war ein nagelneuer silberner Mercedes. Am Steuer saß ein grauhaariger Kerl und aß etwas aus einer dunklen Tüte. Er stopfte es sich regelrecht rein und ließ dabei den Motor laufen.
Hettie fragte mich irgendetwas. Ich gab ihr keine Antwort. Sie stöhnte und ging in die Küche. Ich hörte sie ein paar Schränke öffnen, etwas darin herumschieben, etwas rausnehmen, die Schranktüren wieder zuknallen.
Als sie zurückgekommen war, stapelte sie ein paar längliche Kartons mit Katzenfutter auf die Transportbox und sagte wieder etwas. Ich hörte nicht hin und sah wieder nach dem Kerl. Ich rückte den Vorhang etwas zur Seite, um ihn besser sehen zu können. Er war wesentlich älter als ich.
“Ist das dein neuer Kerl?” fragte ich Hettie, ließ den Kerl dabei nicht aus den Augen. “Der alte Kerl da?”
Sie schnaubte, nahm das Katzenfutter in die eine Hand, die nagelneue rote Transportbox in die andere. “Verdammt, das sieht dir so verdammt ähnlich”, sagte sie im Gehen.
In der Diele machte sie plötzlich halt – ich hörte es nur, sah immer noch nach ihrem Kerl, der seine Tüte leer fraß. Ich hätte sie von meinem Platz am Fenster aus gut in der Diele sehen können; hätte sie mir ein letztes Mal einprägen können.
Ich tat es nicht.
Sie stand bloß da.
“Herbert”, sagte sie, “du liebst diese Mistviecher doch. Hast sie doch immer geliebt, verdammt. Und plötzlich kneifst du, wo es ernst wird, Herbert. Wo dich jemand braucht. Ich meine, das ist doch alles … Wir sind doch Erwachsene, Herbert. Herbert? Hörst du mich überhaupt?”
Sie wartete.
Ich wartete auch. Der Vorhang schwankte, weil ich ihn wieder ein Stück weit zugezogen hatte: der Kerl hatte in meine Richtung gesehen. Er hielt in seinem Fressen inne, starrte zu mir herüber – aber ich glaube, er sah mich nicht. Dann machte er sich am Radio zu schaffen und kippte sich den Rest der Tüte in den Mund. Dazu wippte er mit dem Kopf, als würde ihm der Song, den er hörte, gut gefallen.
“Ach, scheiße”, sagte Hettie, “Das sieht dir so verdammt ähnlich. Du beschissenes Arschloch.”
Sie knallte die Haustür zu. Hinter meinem Vorhang und meinem Fenster und meinem Rasen sah ich sie über das Pflaster der Einfahrt gehen. Die Transportbox in ihrer Hand war wirklich nagelneu. Sie schmiss sie auf die Rückbank des Wagens, schmiss die Hintertür zu, stieg vorne ein. Der Kerl kaute noch, küsste sie auf den Mund. Sie sagte etwas zu ihm und zeigte dabei in meine Richtung. Der alte Kerl folgte ihrem Finger, starrte zu mir herüber. Ich schob den Vorhang zu, wartete, sah, wie sich der Mercedes in Bewegung setzte.
Das war schon ein verdammt guter Wagen.
Und dann war er weg – und Hettie mit ihm.
Ich zündete mir eine neue Zigarette an und rauchte sie. Ich konnte jetzt rauchen, so viel ich wollte.
So überlegte ich.
Worum es wirklich ging, das hatte sie wieder mal nicht verstanden … Hettie verstand nie, worum es wirklich ging.
Das war letztes Jahr um diese Zeit, so um September ‘rum. Es war früh Herbst geworden, es lag Frost in der Morgenluft, das weiß ich noch genau, weil der alte Romanisser mich am Tor über die Hecke hinweg damit vollgelabert hatte, was er in der Zeitung über das Wetter und den Schnee und all das gelesen hatte.
“Und Sie jetzt? Ganz allein in diesem schönen Haus? Was ein Jammer”, sagte er. Es hatte schon alles die Runde gemacht. Wie denn auch nicht, dachte ich – die Umzugswagen, das nächtliche Gebrüll …
“Da baut man sich was auf und dann sowas”, sagte er und schüttelte den Kopf.
Ich machte ein paar Bemerkungen, die üblichen höflichen Floskeln, dann ließ ihn stehen und ging zurück zu meinem Haus.
Zwei Wochen vorher, Hettie war gerade ausgezogen, hatte ich Manno um ein paar zusätzliche Dienste gebeten, um die Bank in Schach und dieses Haus halten zu können. Er machte ein paar Faxen, zwei drei blöde Bemerkungen über die Fahne, mit der ich letzte Woche zum Dienst gekommen sein soll – ich wusste, wem ich das zu verdanken hatte –, Manno gab mir dann aber drei Nachtdienste extra, die er dem Türken abknöpfte.
„Dem Türken, Manno“, sagte ich, „Was ist mit dem Türken?“
„Hat’s nicht mehr gemacht“, sagte Manno. Er kippte das Fenster, steckte sich eine Zigarette an, zog mit dem Daumen eine Linie über seine Pulsader.
„Wie geht’s ihm?“, sagte ich und steckte mir auch eine an.
„Geschlossene“, sagte Manno.
Wir sagten eine Weile nichts. Wir qualmten sein Büro voll.
Ich sah nach der Dose Raumspray auf seinem Schreibtisch. Cotton Candy stand auf ihr.
Sie war rot. Anders rot als unsere Uniformhosen – irgendwie mehr wie Blut. Es war ein schönes Rot.
„Dann fährst du aber mit Arnold …“, sagte Manno.
„Kein Problem“, sagte ich.
„Nein?“, sagte Manno.
Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste, dass Arnold mich verpfiffen hatte. Es sah ihm ähnlich. Es war mir egal.
„Keine Probleme“, sagte ich nochmal. Manno drückte auf die Düse des Raumsprays und der pfiff.
So roch also Cotton Candy, dachte ich. Es roch nach Blut und ich wusste, das konnte nicht sein. Ich fragte mich, ob ich schon so weit war.
Ich dachte auch an den Türken.
Die Wochen vergingen. Dienst, Nächte, Warten. Wir schoben zwei, drei Vierundzwanzig-Stunden-Bereitschaften am Stück, das war verboten, aber wen interessierte das schon? Wir, das hieß Holger und ich, Ivo und ich, Lisa und ich. Meistens Arnold und ich. Wir kamen nicht miteinander aus, aber ich hatte Manno versprochen, dass wir es würden, also taten wir es.
Wenn ich in meinem Haus war, schlief ich kaum. Wenn ich im Dienst war, hätte ich alles dafür gegeben, für ein paar Minuten die Augen zumachen zu können. Ein paar Mal schlief ich im Sitzen ein. Im Wagen; wo auch immer ich gerade war. Arnold laberte dann neben mir, kritisierte und nörgelte an mir ‘rum. Er verstand einfach nichts. Wie Hettie würde er nie irgendetwas verstehen.
Irgendwann schlief ich in meinem Haus gar nicht mehr.
Ich starrte an die Decke, nach den Einbauschränken und in die Ecken. Nichts.
Manchmal sah ich aus dem Fenster, hinter dem vor ein paar Wochen noch der Mercedes mit dem fressenden Kerl gestanden hatte. Nichts. Da war kein Schlaf.
Ich begann, die Einfahrt hoch und runter zu gehen, in der dieser Mercedes gestanden hatte. Erst kam ich mir blöd vor, doch mit der Zeit erschien es mir immer vernünftiger, das zu tun.
Die Hecke war da, die Bäume waren da und darüber ein hässlicher schwarzer Himmel, der mich beschützte. Es war okay.
Kein alter Romanisser, kein Pärchen von der anderen Seite der Hecke. Ich wusste noch immer nicht, wie sie hießen. Ich ging in meinem Pyjama – immer von der Haustür, die Einfahrt runter zum Tor, zur Hecke und wieder zurück. Wieder und wieder.
Anders bekam ich keinen Schlaf.
Zunächst half es.
Irgendwann wurden die Wiederholungen, die er brauchte, die Strecken von Tor zu Tor, immer mehr.
Irgendwann half auch das nichts mehr.
Ich begann, weiter zu gehen.
Ich zog mich an und ging in die Stadt hinaus – tagsüber, nachts, je nachdem, wie ich Dienst hatte. Immer ziellos. Ich ließ mich treiben. Ich suchte nichts, dort draußen, außer Schlaf.
Es fühlte sich gut an, zu gehen.
Ich mochte, wie das Laub unter meinen Füßen knackte. Ich hatte nur meinen grauen Dienstpullover an und fror. Es hatte geregnet an diesem Abend, und ein Wind blies von stadtauswärts nach Süden. Zum ersten Mal in diesem Jahr wehte eine zarte Wolke vor meinem Mund.
Ich entdeckte diese Stadt, in der ich geboren war.
Es ist schon verrückt, dachte ich mir. Sie war hässlich und feindlich, aber es tat gut, in ihr zu gehen. Es brachte Schlaf. Ihre Kälte brachte Klarheit. Ich dachte viel.
An einem großen Dreieck, das zwischen einer Hauptstraße mit Tanke und einer Nebenstraße und einer Art Radweg lag, machte ich oft halt. In diesem Dreieck lag ein Park mit Brunnen und großen Eichen. Es gab auch eine Bank. Manchmal döste ich auf dieser Bank ein, dann musste ich weiter. Ich wusste, es war Zeit und ich könnte in mein Haus zurück und schlafen.
Eines Tages kam ich wieder an diesem Dreieck vorbei, doch der Park war verschwunden. Bagger standen da. Gerade riss einer von ihnen mit noch einem anderen großen Gerät und mit vielen Männern in weißen Overalls die letzte Eiche des Parks aus dem Grund. Es war nicht mehr die ganze Eiche. Es war nur noch ihr Stumpf mit dem riesigen Wurzelballen daran. Die restliche Eiche lag schon mit den anderen Eichenstämmen auf einem Stapel, der früher der Park gewesen war.
Auch der Brunnen war weg und die Bank.
Eine Zeitlang sah ich den Männern in den weißen Overalls zu, dann ging ich zu meinem Haus zurück, wo ich nicht schlief.
Es wurde kälter. Ein paar Feiertage kamen und gingen. Ich fing mir eine Erkältung ein, nichts ernstes, aber gerade genug, damit ich krankfeiern konnte. Ich saß in meinem Haus, fieberte nachts und sah tagsüber fern. Die Tage verstrichen. Zuerst hatte ich noch Anstand genug, Tee zu trinken. Nach zwei Tagen stieg ich auf Tee mit Schuss um, am vierten schließlich auf Bier. Es ging wieder bergauf. Ich drückte die Knöpfe auf der Fernbedienung, sah nach den Dingen, die dadurch am Bildschirm passierten oder auch nicht. Wenn es mir zu blöd wurde, trank ich mein Bier am Fenster, sah in die Einfahrt hinaus und rauchte. Ich spielte mit dem Gedanken, mein Telefon endlich abzumelden.
Einige Wochen später kam ich wieder an dem Dreieck vorbei. Es war jetzt ein geschotterter Grund, der wie eine Wunde in dieser Stadt lag, in der ich geboren war. Ich musste an die Bilder der Nachkriegsjahre denken, die man manchmal im Fernsehen sieht. Auf dem Schottergrund saß ein dünner Kerl mit zerstochenen Armen und einem nervösen Tick in Schultern und Augen auf einem kleinen Schemel. Er saß hinter einem provisorisch aussehenden Stand aus Latten und Holz. Er verkaufte Äpfel. “Ein Kilo, halber Preis” stand auf einem Schild. Er hing seinen Ticks nach, zappelte hinter den Äpfeln. Ich kaufte nichts. Ich mochte keine Äpfel. Neben dem dünnen Kerl stand ein kleines Mädchen. Sie versuchte, eine Katze mit einem der Äpfel anzulocken, was ihr nicht gelang.
Das Kleid der Kleinen faszinierte mich. Es war so unheimlich rot.
Ich ging an ihr vorbei.
Ein paar Monate später erfuhr ich, dass Hettie wohl aus der Stadt hinaus zu ihrem Bruder gezogen war – direkt zu ihm in die Eigentumswohnung der Eltern, wie Klaus sagte, oder nur ins selbe Haus, wie Elisabeth sagte. Klaus und Elisabeth sprachen seit ihrem Urlaub im Sommer auf den Azoren nicht mehr miteinander.
Klaus stand Hettie näher, also hatte er wohl recht. So oder so, dachte ich.
Hettie hatte schon lange davon gesprochen, zu ihrem Bruder ziehen zu wollen; im Grunde immer schon. Ich hatte nie verstanden, warum.
Es war mir egal. Es freute mich, dass sie es hier heraus geschafft hatte.
So oder so, dachte ich. Es freute mich.
Arnold und ich schoben weiter unsere Vierundzwanzig-Stunden-Schichten. Wir sprachen kaum und wenn, dann nur über die Arbeit. Spritzen, Formulare, Tanken. Wir kamen nicht miteinander aus. Immer weniger. Ich riss mich zusammen, weil ich es Manno versprochen hatte.
An einem Freitag lief ich dem alten Romanisser in die Arme. Er laberte mich voll, erkundigte sich nach Hettie, erkundigte sich nach diesem und jenem; nach tausend Dingen. Ich ließ ihn stehen und ging in die Stadt.
Es fühlte sich immer noch gut an, zu gehen.
Es war wieder kälter geworden, doch ich wurde besser, was das Gehen betraf: Ich hatte mir einen alten Rucksack von Hettie aus dem Keller geholt, hatte eine Jacke in ihn gepackt, für den Fall. Auch eine Flasche Wasser. Ich hatte eine alte Plastikflasche genommen und das Etikett von ihr gepult. Ich weiß gar nicht, warum. Es schien mir wichtig.
Ich ging. Die Nacht deckte mich. Wie schon in der Einfahrt musste ich mit der Zeit immer weiter gehen, um an meinen Schlaf zu kommen. Doch das machte mir immer weniger aus. Es glich sich also aus. So oder so, dachte ich und ging.
Ich kam nach Wochen wieder an dem Dreieck mit dem Schottergrund und dem Apfelstand vorbei. Der Schottergrund war verschwunden, der Apfelstand und der dürre Kerl mit den Ticks und das Mädchen mit dem roten Kleid und die Katze auch.
Es lag jetzt ein großes Loch im Schotter des Dreiecks. Ich trat dicht an das Dreieck heran und spähte in das Loch hinunter. Es füllte das ganze Dreieck aus und war mindestens fünf Meter tief. Mir schwindelte. Ich ging weiter.
Es gab jetzt viele solcher Löcher in der Stadt. Die meisten waren dort, wo vorher Bäume gestanden hatten, dachte ich. So oder so, dachte ich. Es geht voran.
In dieser Nacht schlief ich wieder nicht und ging gleich direkt zum Dienst.
Dafür hatte ich nächste Woche frei – Dienstsperre, falls es eine Überprüfung geben sollte.
Ich putzte das Haus, hörte Platten, rauchte. An einem Abend betrank ich mich. Mittwochs kam Elisabeth, sie hatte sich wieder mit Klaus vertragen und dann wieder verkracht, also ging sie runter zur Tanke und holte uns Vanillecola und eine Flasche Rum. Der Rum war in Ordnung. Das hatten wir auf der Schwesternschule schon immer getrunken. Ich suchte so lange nach Eis und den guten Gläsern.
Wir betranken uns, sie erzählte mir von ihrem Ärger mit Klaus. Einmal dachte ich darüber nach, es mit ihr zu versuchen. Ich stellte mir vor, wie es wohl wäre, ihre Brüste anzufassen, sie zu küssen, von ihr in den Arm genommen zu werden. Sie hatte gute Brüste, die mir immer schon gefallen hatten. Ich spielte ein wenig mit dem Gedanken ‘rum, goss uns noch zwei Gläser voll, holte Eis. Ich legte sogar eine schwülstige Platte auf, um die Stimmung ein wenig anzuheizen, ließ es dann aber bleiben. Ich kam mir albern vor. Dafür kannten wir uns einfach zu lang, dachte ich. Ich war froh, betrunken zu sein, dachte ich. Ich schlief dann immer so gut, es war herrlich. Elisabeth übernachtete nicht in meinem Haus. Sie nahm sich ein Taxi oder den Bus, ich weiß es nicht mehr.
Mit dem Rest der Woche wusste ich nichts so recht anzufangen, also besuchte ich den Türken. Ich brachte ihm Baklava mit, das ich an der Ecke kaufte, wo er und ich oft Mittagspause gemacht hatten. Seine Schwester arbeitete da, sie war aber seit Tagen nicht mehr aufgekreuzt, wie ein Hüne von Türke mit zusammengewachsenen Augenbrauen mir sagte. Also ging ich wieder, ohne mit ihr gesprochen zu haben.
Auch an der Klinik schickte man mich wieder fort, ohne dass ich mit dem Türken gesprochen hatte.
Es ginge ihm schlecht, die Tüte Baklava stelle man ihm bei Gelegenheit zu.
„In vier bis sechs Wochen“, sagte die Frau am Empfang. Sie schrieb auf ein Klemmbrett, ohne mich anzusehen. Der Schließer neben ihr spielte mit einem Gummiband, das eine Plastikdose an seinem Gürtel mit einer grünen Plastikkarte in seiner Hand verband.
„Unterschreiben Sie da“, sagte die Frau. Sie sah mich noch immer nicht an.
Ich unterschrieb und bekam eine Quittung, die ich draußen in den Papierkorb warf. Zurück in der Stadt, betrank ich mich ein drittes Mal in dieser Woche, hörte Platten und rauchte.
Ich wollte ins Kino gehen, ließ es aber bleiben, weil ich vom Bier dauernd pissen musste und nie die neunzig Minuten durchgehalten hätte, die ein Film eben dauert.
Ich schlief stattdessen bei einer Wiederholung von irgendeinem Film ein, den ich mit Hettie einmal im Kino gesehen hatte. Ich glaube, er gefiel mir gut.
Als ich wieder Dienst schob, ging ich auch wieder durch die Stadt.
Ich begann, sie mit anderen Augen zu sehen, wie man so sagt. Sie gefiel mir immer weniger. Die Häuser kamen mir immer dunkler vor und die Straßen immer schmäler. Es war schon verrückt, dachte ich mir. So oder so, dachte ich mir. Ich war immerhin hier geboren, dachte ich mir. Was soll man da machen?
In diesem Monat hatte ich Geburtstag. Er fiel mir gerade noch so ein und nach längerer Zeit dachte ich wieder einmal an die Sache mit der Halbzeit. Ich zählte die Jahre, die ich schon gelebt hatte, und die Jahre, die ich noch leben würde. Es fiel mir schwer, dabei etwas zu fühlen oder diese Idee von Zeit irgendwie zu verarbeiten. Überhaupt kam mir diese Zeit wie etwas vor, mit dem ich nichts mehr zu schaffen hatte. Dienst und besonders Nachtdienst sind mit ihrem Konzept nicht zu vereinen, dachte ich mir.
Immerhin spendierte ich mir zu meinem Geburtstag eine Flasche Bourbon und ein Steak, das war doch auch etwas, dachte ich mir. Auch meine Eltern riefen nicht an.
In der Woche nach meinem Geburtstag ging ich wieder zu dem Dreieck mit dem Loch darin. Als ich bei ihm ankam, war das Loch zwar noch da, aber mit einer Art Betonkasten gefüllt, der genau in das Loch hinein passte. Auf diesen Betonkasten, der mich an eine Schuhschachtel erinnerte und damit an das Haus des alten Romanisser hinter meiner Hecke, hatte jemand große Pfeiler gesetzt, die auch aus Beton waren. Die Pfeiler ragten in regelmäßigen Abständen aus dem Betonkasten heraus, an seinen vier Ecken und dazwischen. Niemand arbeitete zwischen diesen Pfeilern, aber große Bauleuchten schlugen ein hartes Licht auf sie. Die Schatten am Waschbeton sahen gruselig aus. Die Stahlkabel, die oben aus den Betonkörpern der Pfeiler ragten, erinnerten mich an Knochen.
Es war kalt geworden. Es roch nach Schnee. Doch es schneite nicht. Es sollte diesen ganzen Winter über nicht ein einziges Mal schneien. Wieder einmal hatte der alte Romanisser Scheiße gelabert, dachte ich mir.
Ich trug jetzt immer die Jacke, die ich zuerst in Hetties Rucksack mit mir herumgeschleppt hatte, für den Fall. Sie half wenig gegen die Kälte. Es war eine Jacke zum Ausgehen, nicht zum Gehen. So oder so, dachte ich mir, wie verrückt, was es alles gab.
In diesem Monat hatten wir von vierzig Touren ganze neun, die aus der Stadt hinaus führten – nach Norden, zur Unfallchirurgie, ein paar rüber nach Westen auf die Orthopädische, sogar ein paar Dialyse-Fahrten mit Privatkasse waren dabei, die wir auf die Privatklinik hinterm Kalvarienberg brachten. Neun Fahrten stadtauswärts, das waren doppelt so viele wie sonst.
„Liegt am Wetter“, sagte Arnold.
Wir fuhren durch die Nacht, am Heimweg von einer hoffentlich letzten Fuhre. Wir rauchten im Wagen, hatten die Fenster nach unten gekurbelt, um den Gestank loszuwerden und damit Arnold keinen Sekundenschlaf bekäme. Es war arschkalt und unser dritter Nachtdienst in Folge. Das war eigentlich verboten – aber wen interessierte das schon?
Das mit dem Wetter war das erste, was Arnold seit drei Stunden gesagt hatte. Zuvor hatten wir uns angeschrien. Ich hatte ihn am Kragen gepackt und er mich. Dem Kind mit der Kopfverletzung war nicht mehr zu helfen gewesen. Der Kopf hatte ganz matschig ausgesehen. Es war eine ekelhafte Angelegenheit. Schon seltsam, dachte ich. Am stärksten in Erinnerung geblieben war mir das Fahrrad des Kindes. Es hatte ausgesehen, als hätte es jemand in eine Schrottpresse geworfen. Schon unglaublich, welche Kräfte ein Auto schon bei langsamer Fahrt entwickeln kann, dachte ich mir. Arnold sprach vom Wetter. Ich glaube, er musste von irgendetwas sprechen. Wir sprachen nicht viel.
An diesem Morgen ging ich nach Dienstschluss direkt meine Runde. Es war noch früh, die Sonne würde erst aufgehen. Es zeigte sich erst ein zartes Rot am Himmel. Es war diese Stunde des Tages, an der alles in Blei getaucht scheint.
Schon verrückt, dachte ich.
Erste Frühaufsteher kamen mir entgegen, Pendler, traurige Gestalten. Alle hatten sie den bitteren Geschmack von Übernächtigung und Kaffee im Mund. Man konnte es direkt sehen. Schon verrückt, dachte ich, dass man soetwas sehen kann.
Ich kam wieder einmal an dem Dreieck vorbei: der Betonkasten im Loch mit den Pfeilern und den Stahlknochen darauf war zu einem kompletten Rohbau geworden.
Ein Skelett von vielen weiteren Betonpfeilern und Trägern und Wänden und Formen war hinzugekommen und stand jetzt auf dem Dreieck. Schon beeindruckend, wie schnell all das entstanden war, dachte ich mir. Als wäre es erst gestern gewesen, dass ich die Schuhschachtel und das Loch und den Schottergrund mit dem Apfelstand und dem dürren Kerl mit den Ticks und dem roten Mädchen und der Katze darauf gesehen hatte, dachte ich mir. Schon verrückt, dachte ich mir.
Dann kam Weihnachten und danach Silvester. An Neujahr hatte ich Dienst, weil ich an Weihnachten keinen Dienst gehabt hatte. Das war bei uns so.
Die Feiertage verliefen vergleichsweise ruhig Es brachten sich nur wenige Menschen um. Wie der Schnee blieb auch der Selbstmord aus.
Der alte Romanisser und das Ehepaar auf der anderen Seite meines Hauses dekorierten heftig und kurz, ich lag mit meinem Haus sozusagen als Puffer dazwischen.
Ich traf mich einmal mit Klaus in der Stadt, wir tranken Glühwein und er sprach davon, dass Elisabeth und er darüber nachdachten, ein Baby zu bekommen. Aus irgendeinem Grund dachte ich an das Fahrrad, das ausgesehen hatte, als wäre es in eine Schrottpresse geraten und stellte mir vor, wie es aussehen würde, wenn ein Baby in eine Schrottpresse geraten würde. Ich übergab mich und Klaus klopfte mir lachend auf die Schulter. Er freute sich darüber, mich unter dem Tisch gesoffen zu haben, wie er sagte, und schien gut gelaunt. Die Sache mit dem Baby wäre wohl so gut wie beschlossen, sagte er und gab mir noch einen aus und erzählte mir davon, über welche Babynamen Elisabeth und er gesprochen hatten.
Ich traf auch Elisabeth kurz vor Weihnachten. Sie kam in mein Haus. Sie sagte kein Wort von einem Baby. Wir sprachen überhaupt wenig, tranken Vanillecola mit Rum und rauchten. Ich dachte diesmal nicht daran, es mit ihr zu versuchen, auch nicht an ihre Brüste. Ich sah sie mir nur einmal an, doch sie kamen mir irgendwie uninteressant vor.
Über die Feiertage putzte ich mein Haus, hörte Platten, rauchte. Es war immer noch schön, jetzt so viel rauchen zu können, wie ich wollte.
Dazu trank ich Sherry, den ich jetzt für mich entdeckt hatte. Es gab trockenen Sherry und halbtrockenen Sherry, etliche verschiedene Sorten und Marken von Sherry. Es kümmerte mich nicht allzu sehr, wie er schmeckte, doch ich mochte es, die verschiedenen Etiketten im Supermarkt zu lesen und die Sherryflaschen in mein Haus zu tragen.
Es half mir, zu schlafen.
Der Schlaf machte mir immer noch große Probleme. Manchmal machte ich mir Sorgen, es nicht mehr lange zu machen – wie der Türke. Dann dachte ich viel an den Türken.
Vielleicht ging ich deshalb – oder vielleicht auch nur aus einer Laune heraus – im neuen Jahr wieder mal an das Eck, wo man Kebab und Oliven und Fladenbrot und Baklava kaufen konnte und ich mit dem Türken immer Mittagspause gemacht hatte. Ich wollte nach seiner Schwester sehen. Sie war nicht da und auch der Hüne mit den zusammengewachsenen Augenbrauen war nicht da, dafür ein Gemütlicher mit Glatze und Schnurrbart.
„Die ist nach Hause geflogen, zu Eltern. Der Bruder hat sie mit“, sagte er.
„Also ist er entlassen?“, sagte ich und kam mir irgendwie blöd vor.
Der Gemütliche gab einem Kerl im Trenchcoat neben mir einen Kilo Lammfleisch in Papier. Der Kerl im Trenchcoat verlangte noch nach einer Tüte und Oliven.
Ich ging.
Alle schafften es aus dieser Stadt raus, dachte ich. Ich freute mich für die Schwester des Türken. Ich hatte sie nur ein-, zweimal gesehen, aber da war sie mir nett vorgekommen. Der Türke war auch nett.
So oder so, dachte ich.
Ich ging in Richtung Bushaltestelle, um den Dreißiger und dann die Vierer zurück zu meinem Haus zu nehmen, entschied mich dann aber aus einer Laune heraus dagegen. Ich wollte die Strecke gehen. Vielleicht wollte ich auch einfach nur nach dem Dreieck sehen. Ich weiß es nicht.
Jedenfalls ging ich, bis mir die Fußsohlen brannten.
Gegen acht war ich am Zaun, der jetzt um das Dreieck gezogen war. Es war schon dunkel und ein rötlicher Vollmond ging auf.
Hinter dem Zaun erhob sich ein futuristischer Bau in Form eines Schiffskiels. Die Fenster waren eingebaut worden und gaben dem Bau seine Augen und ein Gesicht. Espresso-schwarze Metallverkleidungen waren an die Fronten montiert. Man konnte immer noch die einzelnen Betonpfeiler und Träger und Streben ausmachen, die zuerst aus der Schuhschachtel gesprossen waren. Sogar die Postkästen hingen schon in den Nischen, in denen die Eingangstüren saßen. Auch die waren Espresso-Schwarz. Hausnummern klebten als ausgeschnittene Metall-Lettern an den Betonwänden. Was dem Bau jetzt noch fehlte, war schwer zu sagen. Schon verrückt, dachte ich.
Ich ging weiter und versuchte herauszufinden, welchen Tag wir hatten; welchen Monat, welches Jahr. Wie lange war Hettie jetzt ausgezogen? Ich erinnerte mich nicht. Es hätte genauso gut gestern sein können: die nagelneue rote Transportbox mit Aro und Isa auf die Rückbank des Mercedes geworfen, den kauenden Kerl küssend; der Motor schnurrend, davon, meine Einfahrt hinunter …
Ich kam nicht dahinter, welchen Tag wir hatten. Es war mir im Grunde auch egal. Ich hatte nur Angst, meinen Dienst zu versäumen; zu vergessen, dass es ein Tag war, an dem ich arbeiten musste.
Ich ging immer noch regelmäßig, wenn ich Dienst hatte. Ich musste gehen. Es war das einzige, was mir mit dem Schlafen half. Doch ich bemerkte auch, dass es immer weniger half. Ich musste immer weiter gehen. Das Gehen nahm immer mehr Zeit in Anspruch – Zeit, die mir dann für den Schlaf fehlte, selbst wenn ich ihn denn endlich fand.
Wenn ich darüber nachdachte, bekam ich Panik, also dachte ich nicht darüber nach.
Irgendwie schlug ich mich durch.
Es wurde Frühling.
Ich weiß es noch, weil der alte Romanisser am Postkasten beim Tor mir davon erzählte.
“Es wird Frühling, schreiben Sie in der Zeitung. Ich glaube es nicht. Ich traue dem Frieden nicht”, sagte er.
“Ja”, sagte ich.
Ich sortierte meine Post – ich bekam keine Post, sondern nur Reklame – und ließ den alten Romanisser stehen.
In dieser Woche hatte ich Freizeit, weil ich vom Dienst suspendiert war. Ich hatte Arnold ins Gesicht geschlagen. Ich weiß nicht mehr, wie genau es dazu gekommen war; ich war jedenfalls suspendiert.
Ich putzte das Haus, rauchte, hörte Platten. Am Abend fuhr ich mit dem Bus zum Kino, um Klaus zu treffen. Er tauchte nicht auf, also sah ich den Film alleine. Ich trank zwei Flaschen Bier mit Patentverschluss, das nur in diesem Kino verkauft wird, soweit ich weiß, und aß dazu eine Packung Knabberzeug mit einem Marienkäfer auf der Tüte.
Vom Film bekam ich nicht viel mit. Ich dachte an Arnold und an Klaus. Vor allem an Arnold und was Manno gesagt hatte, nachdem Arnold mit seiner Nase und dem Blut zu ihm gekommen war.
Manno rief mich zu sich, fragte, was “die Scheiße hier sollte”, wie er sagte.
Ich erklärte ihm die Sache. Ich sagte Manno und Arnold, dass es mir leid täte und dass Arnold mich eben provoziert hätte. “Ein Streit unter Kollegen”, sagte ich. Mir kam die ganze Chose kindisch vor. Sie war mir einerseits egal – andererseits brauchte ich die Dienste, um die Bank in Schach und das Haus halten zu können, dachte ich mir. Also spielte ich mit.
So oder so, dachte ich.
Arnold wusste, dass ich bei Manno einen Stein im Brett hatte, wegen dieser Sache damals, vor ein paar Jahren, und dass jeder wusste, dass er ein Arschloch war, also gab er klein bei. Ich wusste, dass er noch einen Weg finden würde, mir die Sache heimzuzahlen. Das wusste er auch.
“Ja, eine Meinungsverschiedenheit”, sagte Arnold. “Klar. Kein Ding. Ich wollte dir nur sagen, Manno, dass ich dann morgen nicht komme, ja? Deswegen bin ich hier. Ich muss mir diese Nase anschauen lassen. Ich brauche eine Pause. Ich frag’ den Ivo, ob er für mich einspringen kann.”
“Von mir aus”, sagte Manno und steckte sich eine Kippe an. Er steckte sich immer eine Kippe an, wenn irgendetwas geschah oder auch wenn nichts geschah. Das Fenster war schon gekippt. Es war arschkalt in seinem Büro. Die Flasche Raumspray stand da, wo sie immer stand.
Manno sah mich an. Er wartete auf irgendetwas.
Ich würde ihm nicht sagen, was wirklich vorgefallen war, zwischen Arnold und mir – auch nicht, nachdem er Arnold aus dem Büro geschickt hatte.
“Keine Probleme, hast du mir versprochen”, sagte Manno.
“Keine Probleme”, sagte ich, “Ja. Stimmt. Tut mir leid.” Ich sagte ihm auch, dass es nicht wieder vorkäme, dass wir eigentlich gut zurecht kämen, Arnold und ich – aber die langen Dienste und der Stress … Ich servierte ihm den ganzen Stuss.
Er hörte ihn sich an.
“Geht’s dir gut, Herbert?”, sagte er dann, “Du schaust schlecht aus. Red’ mit mir, bevor du Blödheiten anstellst, du weißt ja, es geht uns allen manchmal so. Ich hab’ von dem Buben mit der Freundin und dem Kind gehört, auf der Autobahn. Bitte meld’ dich rechtzeitig, ja?” Zuerst wusste ich nicht, wovon er sprach; ich musste mich richtig anstrengen, damit es mir wieder einfiel. Dann erinnerte ich mich an das Auto, das aussah, als hätte es jemand in tausend Fetzen gerissen, sagte “Ja” und dass er sich keine Sorgen machen solle – bedankte mich – den ganzen Stuss eben …
Manno hörte sich alles an, nickte, rauchte.
Dabei dachte ich die ganze Zeit über an Hettie und an den Kerl im Mercedes und an die nagelneue rote Transportbox und an Aro und Isa. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, warum.
Ich hatte Angst, dass Manno irgendwie meine Gedanken lesen könnte und fühlte, wie ich zu schwitzen begann.
Ich starrte ihn an. Er brummte vor sich hin. Er sah besorgt aus – und ich glaubte ihm seine Besorgnis – nur kam sie mir völlig absurd vor.
“Ich muss dich trotzdem suspendieren, Herbert”, sagte er. “Wenigstens für eine Woche.”
Es tat ihm leid. Auch das glaubte ich ihm – und auch das schien mir zum Lachen. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, warum.
Ich wusste, ich würde Arnold wieder schlagen – Was dann?
Würde Manno sich dann immer noch Sorgen machen?
Sowas ging mir durch den Kopf, während der Film im Kino an mir vorüber lief.
Ich holte mir noch ein drittes Bier mit Patentverschluss und sah mir dazu den Abspann des Filmes an. Ich wartete, bis das Licht im Saal angeschaltet wurde. Erst dann traute ich mich hinaus.
Später rief ich Klaus an. Er entschuldigte sich, dass er vorhin nicht aufgetaucht war; sagte, dass er und Elisabeth sich wieder getrennt hätten.
„Diesmal endgültig“, sagte er. Ich hörte gleich, dass er stockbesoffen war. „Sie hat schon mit ihrem Chef gesprochen. Wenn sie mit ihm fickt, kann sie mit ihm sprechen schließlich auch. Sie wird mit ihm nach Japan gehen, ein Krankenhaus da aufbauen. Ich hab sie noch ein letztes Mal gefickt, Herbert, ich hab so getan, als wüsst’ ich’s nicht und hab sie nochmal ordentlich durchgefickt, Herbert. Weißt du, wie ich’s angestellt habe? Ich habe so getan, als würde ich abrutschen und knalle ihn ihr hinten rein, verstehst du?” Klaus lachte. Ich hörte, wie er sich eine Kippe anmachte und inhalierte. “Geschrien hat sie. Als ob sie das nicht in und auswendig kennt, diese Hure … Danach hab ich sie rausgeworfen, mit ihrem Pack Lumpen, nackt und durchgefickt, wie sie war, hörst du mich Herbert, ich hab sie rausgeworfen, so wie sie war, du hättest ihr dummes durchgeficktes Hurengesicht sehen sollen. Herbert.“
Ich wusste nicht, ob er weinte – es hätte auch ein Lachen sein können.
So oder so, dachte ich. Schwierig.
Ich fragte ihn, ob er in Ordnung sei.
Er sagte Nein.
Er ginge fort, sagte er. Irgendwohin. Egal. Das sagte er.
Ich sagte eine Weile nichts, wartete. Dann legte ich auf.
Damit war also auch die Sache mit Klaus und Elisabeth erledigt.
Ich hörte von beiden nichts mehr. Sie hatten es aus der Stadt geschafft, dachte ich mir. Ich freute mich für sie. Jeder schaffte es aus der Stadt heraus, dachte ich, nur du nicht.
So oder so – Was konnte man schon tun, das war es, was ich dachte.
Der Frühling kam. Er machte Fortschritte, meinte die Sache mit ihm und der Stadt zusehends ernst. Die lag trotz all seiner Bemühungen finster und dreckig da.
Als es wärmer wurde, ließ ich die Sache mit dem Sherry wieder bleiben. Ich weiß nicht, warum. Ich sah die Flaschen durch, die ich noch in der Küche stehen hatte. Ich hatte sie in dem Schrank aufbewahrt, in dem früher das Katzenfutter gestanden hatte. Ich trank sie aus und fragte mich, was ich je an dem Zeug gefunden hatte.
Schon verrückt, dachte ich mir.
An dem Tag brachten sie den alten Romanisser weg. Er war in seiner Einfahrt gestürzt. Er war ohnehin nicht mehr derselbe gewesen, seit seine Frau zu Ostern gestorben war. Ich weiß noch so genau, dass es Ostern war, weil ich da Dienst hatte. Die Kollegen – Ivo und die anderen – hatten von ihr gesprochen und dass sie wohl gleich neben mir wohnte.
Dann kam der Tag, an dem Hettie früher Geburtstag gehabt hatte. Zuerst fiel er mir gar nicht weiter auf. Es war ein Tag, wie jeder andere. Mittwoch, glaube ich. Erst irgendwann abends las ich etwas an einem Kiosk, was mich an ihn erinnerte. Ich weiß nicht mehr, was. Ich trank noch ein Bier.
Am nächsten Tag hatte ich nur einen halben Dienst, was so gut wie nie vorkam. Ich ging deshalb spät auf die Station, nahm einen Umweg durch die Innenstadt, ich hatte Zeit. Ich hatte am Nachmittag ein paar Biere getrunken. Der Dienst war ruhig. Schon gegen Abend konnte ich wieder meine Runde drehen. Ich kam auch wieder einmal an dem Dreieck vorbei, das früher einmal ein Park gewesen war.
Das Gebäude, das jetzt darauf stand, das immer noch so seltsam wie ein Schiffskiel aussah, war nun fertig. Zum ersten Mal sah ich in seiner ganzen Pracht. Menschen waren hinter den erleuchteten Fenstern zu sehen. Eine Frau kochte in einem sexy langen T-Shirt, ein Mann in Unterhosen und hohen weißen Tennissocken hängte seine Wäsche über eine Leine am Balkon. Blumenkübel hingen davor. Jemand hatte Bastwände hinter seine Geländer gestellt, ein anderer den Balkon mit Fußball-Bannern behangen. Es war etwas schade, dachte ich mir; das Haus sah gut aus und durch all das sah es eindeutig weniger gut aus – aber das Leben stand ihm, dachte ich mir.
Musik drang von irgendwo her. Jemand lachte. Ich glaubte, junge Menschen durch die Wände hindurch tanzen zu sehen.
An einem Fenster hoch oben entdeckte ich ein junges Mädchen. Es hatte blonde Haare und trug einen roten Pyjama, der mich an das rote Kleid des Mädchens erinnerte, das hier einst eine Katze mit einem Apfel hatte anlocken wollen. Ich sah es noch vor mir; den dürren Kerl mit den zerstochenen Armen und den Ticks daneben; den Schottergrund …
Das Mädchen im Fenster kletterte in einen grünen Schreibtischsessel, der hinter einem Tisch am Fenster stand. Darauf war eine Lampe zu sehen, die ein kleines Etwas erhellte. Ich sah genauer hin. Ich war mir nicht sicher, doch ich glaubte, einen kleinen Baum zu erkennen. Ich glaube, es war ein Bonsai; so ein Teil aus Japan; ein Mini-Baum in einem Topf.
Hettie hatte immer von einem Bonsai geträumt.
“Stell dir vor, die können sogar winzige Früchte tragen und all das. Aber die Dinger sind auch sauteuer und angeblich die reinste Wissenschaft. Das wird nix bei meinem schwarzen Daumen. Dafür ist mir die Sache dann doch zu teuer”, sagte sie.
Ein Bonsai.
Wir hatten uns nie einen Bonsai angeschafft. Mir war es gleich.
Hettie sprach nie mehr davon.
Wie üblich hatte sie nichts verstanden.
Das kleine blonde Mädchen las eine Art Nagelschere vom Tisch vor sich auf. Sie kniete auf dem grünen Bürostuhl, der sich unter ihren Bewegungen drehte. Mit einer kleinen Hand hielt sie ein paar Äste des winzigen Baumes, mit der anderen die Nagelschere. Sie schnitt damit etwas von dem Bonsai ab, das winzig auf den Schreibtisch fiel.
Sie lächelte, nahm es auf, hielt es sich unter die Nase und untersuchte es genau. Sie steckte es sich in den Mund und kaute. Sie strahlte.
Ich sah zu ihr hinauf. Das Licht in dem Zimmer hinter ihr erschien so goldig und rein.
Es war jetzt wirklich Frühling geworden.
Ich ging nach Hause und schlief.

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