Auch die neue Tusnelda Abahor war keine große Kinogängerin. Schon die alte hatte, weder gesegnet durch eine televisionäre Heimanlage, noch beglückt durch einen auch nur einzigen Besuch im recht bald aufgekommenen Hinterhof-Kino im Ort T, eine sonderliche Bindung zu dergleichen Fiktion verspürt. Leidenschaftlich, wenngleich von kurzer Dauer, unterhielt sie die Romanze zum Poseidon Kino an der Ungarnstraße, keine fünf Minuten von ihrer Bleibe entfernt, erst, als sie auf die Idee verfiel, etwas lernen zu können, von diesen oft so seltsamen Filmen.
Selbstredend bevorzugte sie die alten Schwarzweiß-Filme aus den goldenen Jahren Hollywoods – selbstredend, erstens, weil ihr zu Ohren gekommen war, dass dies die besten seien und ein jeder Mensch von Welt dies doch einzusehen hätte und zweitens, weil sie sich niemals einen sogenannten neumodischen oder modernen, oder welche abfälligen Worte dafür damals auch immer im Umlauf gewesen waren, angesehen hatte.
Außerdem konnte man im Poseidon Kino rauchen. Und man hatte seine Ruhe.
Dieser fragwürdige Filmpalast an der Ungarnstraße, dessen Schöpfer und Erbauer einer nicht sehr erfreulichen Epoche Europas zuzuordnen waren, hatte seine guten Zeiten längst hinter sich, eben in jenen längst vergangenen Jahren. Der Ruhm, die Glorie, das Plattgold und das weinrote Leder waren verfallen, zersprengt, verschlissen. Man zeigte tagsüber Porno-Filme und erst abends, ab zwanzig Uhr, Hollywood’s Golden Oldies („Heute: Casablanca“ war auf einer Schiefertafel, die den halben Gehweg vor dem Kino einnahm, jeden Mittwoch zu lesen, handgeschrieben mit Kreide, gleich unter „Junge Mundfotzen auf Mallorca“). Über diese seltsame Verteilung zweier Genres, denen beiden gleichermaßen die Nacht gehörte, gab es weniger nachzudenken, als es den Anschein hatte. Die Ungarnstraße gehörte, ebenso wie Tusnelda Abahors Wohnung, zu keiner Gegend der Stadt, in der Menschen mit hochgeschlagenen Krägen, Hüten und Sonnenbrillen zu den Nutten, Dealern oder Pornos gingen – man war gewissermaßen unter sich.
So roch es abends im einzigen Vorführraum des Poseidon nach Pommes, kaltem Rauch und dem eingetrockneten Sperma ein paar Arbeitsloser, Trinker und Künstler, die zwischen vierzehn und neunzehn Uhr zu Junge Mundfotzen auf Mallorca in ihre Papiertaschentücher gewichst hatten. Im Foyer traf man wort- und grußlos aufeinander, Menschen, denen es auf irgendeine Weise Freude, Trost oder Genugtuung spendete, nicht alleine onanieren zu müssen. Manchmal kamen auch Schwule oder Bisexuelle her, in der leisen Hoffnung, vielleicht einen geblasen zu bekommen. Wenn es draußen finster wurde, gingen sie nach Hause, oder in irgendeine Bierkneipe, oder in irgendeinen Park, um sich zu betrinken. Sie schlenderten aus dem Vorführraum, wenn sie es gewohnt, oder hasteten, wenn sie neu waren; immer einzeln, immer auf Abstand, so als trüge jeder Leidensgenosse eine übertragbare Krankheit in sich, immer sahen sie sich in der Kassenhalle die immer selben Plakate an – nicht aus Neugier oder Interesse – so, als wollte man Passanten, normalen Menschen, die vorbei kamen, aber gar nicht da waren, zeigen: Nein, ich steh hier nicht nur ‚rum und warte. Ich sehe mir bloß diese Plakate hier an, weil ich ein bisschen Zeit habe. Ich bin ein ehrbarer Bürger. So viel Würde hatte sich jeder von ihnen noch bewahrt. Dann ging man hinaus, auf den Bürgersteig, dort, wo die Schiefertafel stand, um eine zu rauchen und wieder ehrbar die Zeit verstreichen zu lassen. Warten. Warten, dass die Sonne untergeht. Warten, dass ein weiterer Tag sein gnädiges Ende findet. Warten, dass vielleicht irgendwann alles besser wird. Aber davor steht die Nacht. Noch eine. Deine tausendste allein. Und jeder weiß, dass du nicht allein sein darfst, wenn es dunkel wird. Nicht immer. Nicht zu oft. Es frisst dich auf.
Deswegen warten sie alle, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist, die erste Flasche aufzumachen. Die Nacht ist lang. Und du musst sie überstehen. An ein Schlafen ist hier nicht zu denken. Darum trink. Trink um dein Leben.
Der Kiosk die Ungarnstraße runter, die Tankstelle die Ungarnstraße rauf, der Nachtsupermarkt zwei Querstraßen weiter; sie füllen sich dann mit Leben und geben Bierdosen, Schnapsflaschen und Spirituosen aus, wie Matrosen Schwimmwesten an zu Tode verängstigte Passagiere. Die Schlauen haben vorgesorgt und ziehen mit prall gefüllten Taschen in alle Himmelsrichtungen davon. Das Poseidon Kino gehört dann der zweiten Art von traurigen Nachtfaltern. Die Filmrollen werden gewechselt, die Sitze und Reihen im Vorführraum aus- und abgekehrt, dürftig, das gesichtlose Personal hinter den Schaltern und Pommes-Fritteusen wechselt die Schicht, eine Kassa voller Kleingeld wird gegen eine leere getauscht und in irgendeinem Tresor aus dem zweiten Weltkrieg hinterlegt. Alles schaltet auf Schwarzweiß. Hollywood’s Golden Oldies. Humphrey Bogart, William Holden, Robert Mitchum, Lauren Bacall, Ingrid Bergmann, Bette Davis kriechen ein tausendstes letztes Mal von ihren Plakaten, spielen in unendlicher, höllischer Verdammnis wieder und wieder die Rollen ihres Lebens. Ihre Gesichter, die niemand lebendes je in Farbe gesehen hat, sind aus Stein, ihre Mimik, wenn sie körnig und grob durch verrauchte Luft auf die wellige Leinwand geworfen wird, von der Verbitterung einer ganzen Generation gezeichnet. Es ist kein wirkliches Wunder, dass sie Nacht für Nacht so viele verlorene Seelen in diese abgestandene, ranzige Kammer locken. Nicht bei dieser Härte. Nicht bei all dieser Enttäuschung, die jeder ihrer Bewegungen anzusehen ist.
Ihr Gebaren ein Fausthieb. Jedes ihrer Worte eine Absage an das Leben.
Tusnelda Abahor mochte diese Filme nicht lange, aber dafür ehrlich. Sie saß im Poseidon, mit einer Handvoll anderen, niemals Gruppen, niemals Pärchen, rauchte, trank manchmal und erfreute sich einfach so an den Bildern, an den Geschichten, an den Sitten dieser längst vergangenen Zeit.
Der Hauptdarsteller, ein knorriger Einzelgänger, wie üblich, pflegte die meiste Zeit des Films über nichts anderes zu sagen, als „Ja“ oder „Nein“ und zwar jedes Mal mit einer scheinbaren Tragweite und Seriosität, dass man sich schon fragen konnte, ob nicht alle Sprachen dieser Welt bloß einigermaßen logisch um diese jeweils zwei integralen Worte herumgebastelt waren, bloß dem Zwecke dienten, Fragen formulieren zu können, die sich dann je nach dem auf ein „Ja“ oder „Nein“ zuspitzen konnten; ob nicht überhaupt die ganze Welt bloß dafür da war, diesem knorrigen Mann dort auf der Leinwand zu begegnen, harrend, ob er nun „Ja“ oder „Nein“ zu ihr sagte. Sinnlos eigentlich, alles, was darüber hinaus geht, interessant, ja, aber sinnlos, farbenfroh und abwechslungsreich, ja, aber fehl am Platze, in fünfundzwanzig Bildern pro Sekunde, die nur aus Schwarz und Weiß bestehen, hier in diesem Kino, und vielleicht, wie Tusnelda Abahor erwog, vielleicht auch noch in diesem fernen Land namens Amerika.
So grübelte sie und wähnte ihre Lektion als gelernt, was gleichzeitig das Ende der Romanze bedeutete (sie würde später nie wieder ein Kino betreten), als auch die Geburt einer seltsamen Idee, der sie erstaunlich lange nachzuhängen schaffte.
Keine Figur in ihren Büchern sollte fortan eines dieser beiden Wörter in den Mund nehmen. Kein Ja und kein Nein. Niemals. Und wenn es bloß ums Prinzip ginge dabei. Und so versuchte sie am eigenen Leib, sich dieser Wörter zu entledigen. Wenn ihr jemand eine Frage stellte, die sie hätte mit Ja beantworten sollen, dann sagte sie einfach „Okay“ oder „In Ordnung“ oder nickte bloß. Du sagst nicht Ja. Und du sagst nicht Nein.
War das kindisch? Mit Sicherheit. War das Alter-Tusnelda-Style? Aber ja…

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